Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
Vorwort
Ausfahrt aus Liverpool
E in kleiner Zwischenfall, der sich tief in mein Gedächtnis eingeprägt hat, war dafür verantwortlich, dass mein Gefühl für die Romantik des Meeres erwachte, die auch das vorliegende Buch heraufbeschwört. Es geschah am 5. Mai 1963, einem Sonntag: Der Morgen dämmerte kühl und klar herauf; ich war gerade achtzehn Jahre alt und befand mich ohne Begleitung an Bord eines großen Ozeandampfers, der Empress of Britain , auf der Überfahrt nach Nordamerika. An einem entlegenen Fleck des Nordatlantiks östlich der vor Neufundland gelegenen Grand Banks stoppten unsere Maschinen ganz unerwartet, und wir trieben geräuschlos über einem kleinen unterseeischen Plateau, nur wenige Meilen von den ersten Ausläufern des amerikanischen Kontinents entfernt, einem Gebiet, das Ozeanografen und Fischern als Flemish Cap bekannt ist.
Genau dort ereignete sich etwas recht Sonderbares.
Wir waren fünf Tagesreisen von Liverpool entfernt. Unsere Fahrt hatte am vergangenen Dienstag begonnen, einem böigen Tag, an dem jähe Windstöße das Wasser des Mersey peitschten, so dass filigrane Gischtgespinste aufstiegen. Unter solchen Umständen hatte ich zum ersten Mal das Schiff zu Gesicht bekommen, auf dem ich meine persönliche Jungfernfahrt über den Atlantik antreten sollte.
Es waren die Bordwände des großen Dampfers, die bei mir den stärksten Eindruck hinterließen, hoch und blendend weiß – die Empress of Britain und ihre beiden ebenfalls im Dienst der Canadian Pacific Line stehenden Schwesternschiffe waren zusammen als die White Empresses bekannt –, ragten sie am Ende einer jener Straßen auf, die zu den Kaianlagen von Liverpool führen. Die Empress of Britain war sicher am Pier Head, direkt neben dem alten Prince’s Dock, festgemacht; ein Dutzend Hanftaue, dick wie der Arm eines Mannes, sorgten dafür, dass sie, über das stürmische Wetter erhaben, vollkommen still dalag. Hektisch vorgenommene letzte Vorbereitungen und der vom Wind weggefetzte Rauch, der aus ihrem Schornstein aufstieg, zeigten aber an, dass sie schon an ihren Leinen zerrte. Mit ihrem sechsundzwanzigtausendfünfhundert Tonnen verdrängenden Rumpf aus fest vernietetem Clydeside-Stahl machte die Empress sich bereit für die dreitausend Meilen lange Reise nach Westen, über den Atlantik hinweg nach Kanada, und ich hielt ein Ticket für die Fahrt in der Hand.
Die Empress of Britain , ein Ozeandampfer von 26500 Tonnen, das dritte auf diesen Namen getaufte Schiff, wurde 1955 in Anwesenheit von Königin Elizabeth II. auf einer Werft am Clyde vom Stapel gelassen. Sie war eines der drei »Arbeitspferde« der Canadian Pacific Line, die kollektiv als White Empresses bekannt waren, und beförderte, bis 1963 die Konkurrenz durch Flugzeuge ihren Betrieb unrentabel machte, Passagiere von Liverpool nach Montreal und in umgekehrter Richtung.
© Canadian Pacific Archives
Ich hatte sechs Monate gebraucht, um so viel zu verdienen, dass ich es bezahlen konnte. Ich muss damals einen Sklavenlohn bekommen haben, denn die Passage kostete nicht mehr als hundert Dollar, vorausgesetzt, dass ich bereit war, mich mit einer von vier Kojen in einer tageslichtlosen Kabine auf einem Deck so weit unterhalb der Wasserlinie zu begnügen, dass man beinahe das Bilgewasser schwappen hören konnte. Doch auch wenn es nur ein Ticket für eine der Billigklassen war – eine Stufe über einer Passage auf dem Zwischendeck –, hatte man in den Geschäftsräumen der Canadian Pacific Line in der Nähe des Trafalgar Square, wo erleuchtete Modelle berühmter Ozeandampfer aus vergangenen Zeiten die Fenster schmückten und man sich, von Teakholz, Marmor und feierlicher Stille umgeben, mehr wie in einer Kathedrale vorkam als in einem Büro, sogar diese bescheidenste aller Transaktionen feierlich und mit Umsicht abgewickelt.
Vielleicht hat die Zeit alles ein wenig verklärt, und die Erinnerung trügt mich, aber ich bilde mir ein, dass der in einen Smoking gekleidete Angestellte mit einem Pincenez auf der Nase und dem Emblem der Gesellschaft, das Fichten, Eisbären und Biber zeigte, auf dem Revers, der mein Erspartes entgegennahm, das Ticket handschriftlich ausstellte und zu diesem Zweck seine Feder in ein Tintenfass tauchte und das Geschriebene mit einer Rolle rosafarbenen Löschpapiers trocknete. Liverpool to Montreal, Voyage No. 115 , hatte auf dem Papierstreifen gestanden, und ich weiß noch genau, dass ich in der Zeit danach diesen kostbaren Talisman immer wieder in der
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