Wer sich nicht fügen will
Mädchen plötzlich die Augen auf, und ich glaubte Furcht darin zu lesen.
Das Kreuz war klein, etwa drei Zentimeter, und aus dünnem Gold. Es war tatsächlich ein orthodoxes Kreuz mit einem Schrägbalken unterhalb des Querbalkens. Nach einer Gravur suchte ich vergeblich. Den einen der beiden Ringe zierte ein riesiger Rubin, eingefasst von Diamanten, die wie Blütenblätter angeordnet waren. Er sah wertvoll aus, hatte aber ebenfalls keine Gravur. Der andere Ring war schlichter, ein dünner doppelter Goldreif, in den hier und da kleine Steine eingelassen waren, offenbar Granate. Ich hielt ihn ans Licht. ›Nad Oksanu. A.‹
»Nad Oksanu … Oksana? Dein Name?«, fragte ich auf Russisch und sah, wie das Mädchen schluckte. Doch sie schwieg beharrlich. Da klingelte mein Handy. Ich hatte vergessen, es beim Betreten der Klinik auszuschalten. Auf dem Display sah ich die Nummer der Staatsanwältin Katri Reponen, mit der ich befreundet war, und schaltete kurzerhand ab. Mit Katri konnte ich später reden.
»Oksana, wir wollen dir helfen. Derjenige, der das getan hat, muss zur …« Ich erinnerte mich nicht, was Verantwortung auf Russisch hieß, und ließ den Satz unvollendet. »Hier ist meine Telefonnummer«, sagte ich stattdessen und legte meine Visitenkarte auf den Tisch. Dann öffnete ich Oksanas Schrank. Ein Pelzmantel quoll heraus, dick und flauschig, aber an der Vorderseite blutverschmiert. Ich hatte keine Ahnung, von welchem Tier das blaugraue Fell stammen konnte, Koivu tippte auf gefärbten Chinchilla. In der Manteltasche fand ich eine Zwei-Euro-Münze und ein Papiertaschentuch. Die schwarzen Schnürstiefel, die unten im Schrank standen, hatten extrem hohe Absätze und spitze Kappen. Sie erinnerten mich an den Film vom Vorabend. Am Schaft des rechten Stiefels befand sich ein kleiner Riss, der mit Leim notdürftig repariert worden war.
Unterdessen war die Oma im mittleren Bett aufgewacht und lärmte. Sie wollte zur Toilette. Die geschäftige Zimmergenossin klingelte nach der Schwester. Ich sprach noch kurz mit der Diensthabenden und bat sie, uns zu informieren, wenn sich der Zustand des Mädchens veränderte.
»Schade, dass wir keinen russischsprachigen Psychiater oder Psychologen haben«, sagte ich zu Koivu, als wir zum Parkplatz gingen.
Koivu hatte für den Nachmittag einen Termin mit der Frau vereinbart, die die Unbekannte gefunden hatte. Die Vermisstenmeldungen hatte er bereits am Morgen überprüft. Am besten stellten wir sofort eine Pressemitteilung ins Internet, das konnte Koivu mit der Pressereferentin erledigen. Vielleicht brachte die Erwähnung der Schmuckstücke irgendwelche Hinweise.
»Dann besteht allerdings die Gefahr, dass der Täter erneut zuschlägt, wenn er die Mitteilung liest«, gab Koivu zu bedenken. Natürlich würden wir den Aufenthaltsort des Mädchens nicht bekannt geben. Falls einer ihrer Freier sie so zugerichtet hatte, würde er wahrscheinlich bald ihren Zuhälter am Hals haben. Andererseits – wenn der Zuhälter wollte, dass das Mädchen ärztlich versorgt wurde, weshalb hatte er sie dann nicht direkt vor der Klinik ausgesetzt?
»Überprüf sicherheitshalber alle in Finnland lebenden Oksanas. Es werden nicht viele sein. Such dir die raus, die zwischen fünfzehn und dreißig sind. Wie genau wurde der Fundort abgesucht? Kann es sein, dass etwas übersehen wurde, ein Handy zum Beispiel oder eine Handtasche?«
»Rasilainen und Airaksinen waren da. Sie haben nichts gesagt.«
»Setz dich mit der Prostituiertenberatung in Verbindung. Die geben natürlich nicht gern Auskunft über ihre Klientinnen. Deshalb musst du ihnen ausdrücklich sagen, dass wir Oksana als Opfer betrachten, nicht als Verdächtige. Wenn sie sich weigert, zu sagen, woher sie die Verletzungen hat, können wir kaum etwas tun. Festnehmen können wir sie nicht, aber ihre Identität muss festgestellt werden. Das ist allerdings Sache der Ausländerpolizei.«
Koivu gähnte wieder. Der Arme tat mir leid. Sein Sohn Juuso war nicht mal drei, Sennu anderthalb. Zum Glück brauchte man nicht die volle Hirnkapazität, um der Identität der jungen Frau nachzuspüren, die ich in Gedanken Oksana nannte. Ich überließ Koivu das Einparken und ging in mein Dienstzimmer. Auf dem Computer erwartete mich eine kurze E-Mail von meinem unmittelbaren Vorgesetzten Jyrki Taskinen. »Alles bestens hier in Quebec. Silja geht es gut, sie findet sich nur zu rund, und Terttu genießt es, sie zu bemuttern. Nächste Woche soll es so weit sein. Habt ihr
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