Atlan TH 0010 – Das Gesetz der Erbauer
1.
Der Korridor lag im trüben Licht der flackernden Notbeleuchtung.
Horm Brast zögerte, den Gang zu betreten. Irgendwie fühlte er die Gefahr, die dort auf ihn lauerte. Zu allem Überfluss begannen ausgerechnet jetzt seine Gesichtsnarben zu schmerzen. Die Wundmale verursachten heftiges Stechen. Er hatte sie sich zugezogen, als er vor vielen Jahren bei dem Versuch, in eine der Verbotenen Zonen einzudringen, mit Giftstoffen in Berührung gekommen war.
Horm Brast taumelte. Mit beiden Händen fing er sich an der Wand ab und presste seine Stirn gegen das kühle Metall. Die Berührung tat gut. Die beginnende Übelkeit verflog wieder.
Die böse Vorahnung dagegen blieb.
Sollte er umkehren?
»Nein!«, ächzte der Mann. Der heisere Klang seiner eigenen Stimme erschreckte ihn. Jeder Umweg hätte ihn nur Zeit gekostet – und gerade Zeit war kostbar. Was nutzten die besten Medikamente, wenn er zu spät zurückkehrte?
Germa, schoss es durch seinen Kopf. Halte durch! Ich werde dir helfen!
Doch der Zweifel ließ sich nicht betäuben. Er fürchtete, dass das Mädchen sterben würde, und obwohl Germa ein Monster war, hatte er Angst davor, sie zu verlieren. Sie und Sylva, ihre ältere Zwillingsschwester – und Mira Willem, die für die beiden wie eine Mutter war.
Das Wort Monster besaß für Horm Brast mittlerweile einen bitteren Beigeschmack. Dabei lag es noch gar nicht lange zurück, dass auch er die Missgeburten der SOL gejagt hatte, um sich an ihrer Angst zu weiden, sich an ihrem Besitz zu bereichern.
Mehr als sechs Wochen waren inzwischen vergangen, Wochen voller Furcht und Hoffnung ... Wie ein Film im Zeitraffer zogen die Ereignisse erneut an Brasts innerem Auge vorüber.
Das Gefühl unbekümmerter Stärke und Zusammengehörigkeit, als es die Bordnomaden noch gab. Die einträglichen Raubzüge in der Maske von Troiliten, von denen damals niemand wusste, ob sie wirklich existierten. Dann dieser geheimnisvolle Fremde, der sich Atlan nannte, die beiden Mädchen, deren Mutter anstelle des Magniden Homer Gerigk starb ...
Unbewusst tastete Horm Brast nach seiner Neuropeitsche. Das Gefühl der kühlen Waffe in seiner Hand brachte ihm das schwindende Selbstvertrauen zurück.
Er lauschte. Die Stille um ihn herum war beängstigend. Vor einer knappen Woche war die Beleuchtung in diesem Abschnitt noch nicht defekt gewesen. Zufall? Oder steckte Absicht dahinter?
Horm Brast war geneigt, Letzteres anzunehmen.
»Er bringt uns alle in Gefahr.«
»Werft ihn den Vystiden vor – ihn und diese Brut, die er bei sich aufgenommen hat.«
»Monster? Man sollte ihn auf der Stelle totschlagen – und seine Hausgäste gleich mit ...«
Laut klangen die Worte seiner Freunde in ihm nach.
»Freunde – dass ich nicht lache!« Brast spuckte aus. Mit der geballten Linken schlug er gegen die Wand. Ein dumpfes, hallendes Geräusch durchbrach die Stille um ihn herum.
Fünf Tage lag es inzwischen zurück. Er würde jenen 20. Mai nie mehr vergessen, denn seit damals wusste er, was er von seinen Mitmenschen – seinen Freunden – zu halten hatte. Egoistisch waren sie und feige, sie sprachen von einer Freiheit, die sie nicht kannten, vielleicht gar nicht kennen wollten, und beneideten deshalb die Buhrlos. Aber sie redeten nur. Und sie fürchteten alles, was anders war als sie, was ihren gewohnten Lebensrhythmus störte. Deshalb hassten sie Germa – von dem Augenblick an, als sie herausfanden, dass das Mädchen außer ihren beiden dürren Ärmchen zwei weitere besaß, die in Höhe der Hüftknochen aus ihrem Körper wuchsen.
Und mit jedem Tag, der verging, veränderte sich Germa weiter, bildeten sich immer größere Hautbereiche aus verhornten Schuppen.
Horm Brast wandte sich um. Hinter ihm waren die Gänge hell erleuchtet. Lediglich vor ihm, auf einer Länge von vielleicht hundert Metern, lauerte die Finsternis.
Er hatte geahnt, dass sie irgendwann zuschlagen würden. Aber ausgerechnet jetzt ...
Dabei hatte die Gruppe ihn, Mira und die Mädchen zunächst freudig aufgenommen. In ihrer Mitte war Horm Brast aufgewachsen. Er kannte jeden Einzelnen von ihnen, und sie kannten ihn. Hier, in diesem Sektor der SZ-1, der in der Nähe der Außenhülle lag, hatte er so etwas wie Geborgenheit zu finden gehofft. Nicht nur für sich oder Mira, sondern vor allem für Germa und Sylva, die so viel hatten erdulden müssen.
Anfangs hatten seine Hoffnungen sich auch erfüllt. Aber ein einziges Wort konnte an Bord der SOL alles
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