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Wer stiehlt schon Unterschenkel: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition)

Titel: Wer stiehlt schon Unterschenkel: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Prokop
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leisten sollte – die Preise in der »Stardust«-Bar sind ihrer exquisiten Höhenlage angepaßt, und ich hatte ohnehin Schwierigkeiten, mit meinen Dollars auszukommen, denn ein paar Wochen sind viel zuwenig, sich an Geld zu gewöhnen –, da kam Timothy Truckle.
    Ein Raunen ging durch den Raum, es galt einer langbeinigen Schönheit, dem Star einer Videoshow, die damals das Tagesgespräch von Chicago war. Das Mädchen interessierte mich nicht, ich hatte sie bereits auf dem Bildschirm erlebt und alles von ihr gesehen, was es an einem Mädchen zu sehen gibt. Ich fand, daß sie, wie die meisten Frauen, angezogen hübscher aussah. Ich beobachtete Tom, den schwarzen Liftboy, einen Hünen von mindestens zwei Meter vierzig, auch eine der Sehenswürdigkeiten der Bar, nicht weil er so ein Riese, sondern weil er ein Neger war und, wie man mir versicherte, der einzige Farbige in der Stadt, der einen derartigen Posten bekleidete. In den anderen Lifts zur Bar arbeiteten lupenreine Weiße, engagementslose Schauspieler, die von Berufs wegen die Manieren der alten Zeit kennen, denn es war Mode, sich nach dem Geschmack des 19. Jahrhunderts einzurichten. Der Lift, den Tom bediente, sollte sogar ein Original aus dem Edison-Museum sein, und er sah wirklich echt aus: mausgraue Seidentapeten mit rosa und gold gestickten Mustern, Papageien und Kolibris in kunstvoll verschlungenen Blätterranken, dazu geschliffene gläserne Spiegel und Messingleisten; ja, Sie haben richtig gelesen, Messing.
    Ich hätte gern ein Interview mit dem schwarzen Riesen gemacht, aber ich wußte, es war zwecklos, das zu versuchen. Niemand würde sich auf ein Interview mit einem Nichtstaatler einlassen, schon gar nicht ein Farbiger, der nachts in einem weißen Distrikt arbeiten durfte. Tom hielt die Tür des Lifts auf, als wartete er, daß jemand einsteige, dann aber stieg noch jemand aus, ging, nein, schritt auf den Bartresen zu, jeder Zentimeter ein König, ein winziger, er maß höchstens anderthalb Meter.
    »Hallo, Melvin«, begrüßte er den Barkeeper.
    »Hallo, Mister Tiny«, erwiderte der flüsternd und hob warnend seine Augenbrauen.
    Tiny reagierte nicht. Er legte beide Hände auf den Hocker neben mir und verlangte gebieterisch: »Count down!« Der Barkeeper gab seine Grimassen auf, drückte einen Knopf und ließ den Sitz zu Boden gleiten.
    Tiny setzte sich in Positur und begann zu zählen. »Zehn, neun, acht... «, seine Stimme war überraschend tief, »... zwei, eins, zero.« Der Hocker schob sich in die Höhe, bis Tiny beide Ellenbogen auf den Tresen legen konnte. Er bestellte Whisky, dann sah er mich an.
    »Ich bin Timothy Truckle, aber alle sagen Tiny 1 zu mir. Und Sie sind – lassen Sie mich überlegen –, Sie sind einer von DRAUSSEN.«
    Er benutzte nicht das übliche »Outlar«, das von Amts wegen eingeführt war, wohl um an »Outlaws«, an Geächtete, an Verbrecher zu erinnern, sondern sagte »Outdoors«, was nicht nur mit DRAUSSEN, sondern auch mit »im Freien« übersetzt werden kann.
    »Sie sind der Mann, der über die Saturn-Expedition geschrieben hat, stimmt’s?«
    »Stimmt.« Ich stellte mich vor.
    »Angenehm.« Er schmunzelte.
    »Sie sind mutig«, sagte ich. »Bisher hat sich noch niemand getraut, mit mir zu sprechen, es sei denn, er hatte einen offiziellen Auftrag dazu.«
    Seine Antwort war ein Wortspiel mit der Doppeldeutigkeit seines Namens: »I’m just a truckle, but I don’t like to truckle. – Ich bin nur ein Rädchen, aber ich mag nicht zu Kreuz kriechen.«
    Er sah mich aufmerksam an, ob ich es verstanden hätte, und ich antwortete mit einem Wortspiel: »Die Geschichte ist voller kleiner Männer, die große Männer waren – Hannibal, Napoleon, van Meeren, Ulubi.«
    »Vor allem Napoleon!« Er kicherte. »Melvin, geben Sie dem Mann einen Whisky. Auf meine Rechnung.« Er sah mir in die Augen. »Ich liebe Whisky. Und den Sonnenuntergang. Ich bin überaus konservativ. Privat. In meinem Job benutze ich die modernste Technik.«
    Während er den Sonnenuntergang beobachtete, überlegte ich, was für einen Job Timothy Truckle haben könnte.
    »Sie erraten es doch nicht«, sagte er plötzlich. »Ich bin Detektiv, wenn Sie wissen, was das ist.« Er amüsierte sich über meine Verblüffung und bestellte noch ein zweites Mal Whisky für uns.
    So begann meine Bekanntschaft mit Timothy Truckle, bei einem halben Dutzend Whiskys in der Bar und zwei weiteren Dutzend in seinem Appartement, zwischendurch servierte er Mokka und rabenschwarzen Tee; ich

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