Wer weiter sehen will, braucht hoehere Schuhe
insbesondere wenn man gut aussieht und daran gewöhnt ist, von allen Seiten Beachtung und Komplimente zu bekommen. Ein Therapeut würde Sie höchstwahrscheinlich bitten, zwei Listen anzulegen: das Gute und das Schlechte an den Zwanzigern, den Dreißigern, den Vierzigern und so weiter … Jugendliche Kleidung macht nicht jung, sondern lässt einen wie eine tragische Figur aussehen, und zwar so sehr, dass fremde Menschen Mitleid mit einem bekommen. Wenn Sie Kleider aus einer anderen Zeitspanne Ihres Lebens tragen, bedeutet das nicht, dass Sie modisch etwas hinterherhinken (und wenn schon, wen würde das interessieren?); nein, es bedeutet, dass Sie nicht in den nächsten wunderbaren Lebensabschnitt eingetreten sind. Man entwickelt sich immer weiter, in den Dreißigern, den Vierzigern, den Fünfzigern. Die Haarfarbe verändert sich, die Figur, das Innere, und nichts davon ist schlecht, sondern eben nur anders.
Seit zehn Jahren hat die Welt meine Oberarme nicht mehr zu Gesicht bekommen, dafür aber gelegentlich meine Brüste, weil sie immer noch dort sind, wo sie sein sollen. Niemand bekommt wegen meiner Beine schlaflose Nächte, also trage ich keine kurzen Röcke. Haben Sie hingegen schöne Beine, zeigen Sie sie. Der richtige Umgang mit den Vorzügen, so lautet die Parole. Außerdem sieht kein Mensch gut in zeltartigen Kleidern aus, sondern auf Figur geschnittene Sachen lassen uns einfach besser aussehen, egal welche Figur wir haben. Und noch was, Mädels: Wenn ihr keinen Modelkörper besitzt, will ich weder euer Schamhaar noch eure Taillenröllchen über den Bund einer Hüftjeans quellen sehen. Danke. Nur weil es Mode ist, muss es noch lange nicht heißen, dass es auch gut aussieht. Eine meiner Nichten trägt Hüftjeans und tief ausgeschnittene Tops, aber dieses Mädchen ist auch eine einsachtzig große Göttin mit Modelfigur. Ganz im Gegensatz zu den meisten von uns.
Ich weiß noch, als mich ein in die Jahre gekommener Möchtegern-Modezar drei Jahre in Folge zur am schlechtesten gekleideten Frau des Landes ausgerufen hat. Eines Tages war ich im Frühstücksfernsehen und wurde zu diesem und jenem befragt (beispielsweise zu meinem erstklassigen Modegeschmack). Es stellte sich heraus, dass die Moderatorin heimlich diesen widerwärtigen Schleimbeutel hinter der Bühne versteckt hatte. Sie fragte mich, ob ich bereit sei, ihm zu verzeihen. Dieser elende Drecksack saß tatsächlich in der Seitenkulisse und wartete darauf, dass ich ihm vergab. Ich sagte Nein. Wann ich dann dazu bereit sei, fragte die Moderatorin, und wie lange man meiner Meinung nach einen Menschen für einen Fehler zappeln lassen solle. Ich sei Irin, erwiderte ich, und Vergebung sei ein Fremdwort für uns. Immerhin betrauern wir heute noch Verbrechen, die man uns vor über zweihundert Jahren angetan hat. Deshalb laute das Urteil »lebenslänglich«. Ich leide nun mal am »Versuch ja nicht, mich hier zu verarschen, sonst wirst du’s bereuen«-Syndrom. Dieser Vorfall sorgte für einigen Wirbel in der Presse, unter anderem deshalb, weil viele Journalisten, die ich kenne, unter derselben Krankheit leiden und man sich deshalb darauf verlassen kann, dass sie sich mit Begeisterung auf so eine Geschichte stürzen.
Frech, witzig und spontan
Als ich in den Achtzigern in Paris lebte, waren »frech«, »witzig« und »spontan« die Schlagworte in der Modewelt. Mir leuchtete nicht ganz ein, was so neu daran sein sollte, schließlich klang es exakt nach dem, was ich seit zwanzig Jahren lebte. Außerdem verwenden Modejournalisten innerhalb eines einzigen Artikels unter Garantie mindestens siebenunddreißigmal das Wort »Story.« So trugen die Modestrecken unter anderem wohlklingende Titel wie The English Tea Dance Story , The Decadent Opulence Story , The Bolivian Mountain Girl Story und The Dominatrix Story . Sitzen all diese Leute ernsthaft an ihren Schreibtischen und denken sich diese »Storys« aus? Waren sie überhaupt schon mal in Bolivien? Wissen sie, dass Mädchen aus bolivianischen Bergdörfern jeden Tag dasselbe Kleid und kein Höschen drunter tragen? Ich weiß es, weil ich nämlich schon mal in Bolivien war. Und in den zwei Wochen ist mir keine einzige »Story« über den Weg gelaufen. Natürlich musste jedes modebewusste Mädchen in der La Vie Ordinaire Story automatisch frech, witzig und spontan sein … Oh Mann. Kein halbwegs anständiges Mädchen ahnte, was mit Dominatrix gemeint ist. Nur ich weiß es rein zufällig, weil an der Wand des Hauses gegenüber
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