Werke
Menschen da, worunter ich einige kannte, da sie ebenfalls Bewohner des Gasthofes waren und sich gewöhnlich zu den Versammlungsstunden in dem Speisesaale einzufinden pflegten. Wir sprachen verschiedene Dinge, unter andern auch von den Geschwistern Milanollo und ihrer heutigen Vorstellung, aber nur oberflächlich, wie es bei Reisenden oft gewöhnlich ist, die, wenn sie sich auf mehrere Augenblicke zusammen finden, gern einige flüchtige Worte wechseln. Mein Nachbar kam nicht zum Abendessen herunter. Ich blieb länger sitzen als gewöhnlich, teils weil ich müde war, teils weil die Eindrücke, welche ich empfangen hatte, nur nach und nach verschwanden.
Als ich von dem Speisesaale über den Hof zu meiner Wendelstiege ging, sah ich gegen die Fenster meines Nachbars hinauf, sie waren schwarz, und er hatte bereits sein Licht ausgelöscht. Ich stieg die Treppe hinan, und da ich, um zu meinem Zimmer zu gelangen, an dem seinen vorüber mußte, hielt ich unwillkürlich an der Tür etwas an; aber es war totenstille in dem Innern, und der Bewohner mochte wohl schon in tiefem Schlafe liegen.
Da ich mein Gemach aufgeschlossen und wieder zugeschlossen hatte, da ich mein Licht auf dem Nachttischchen entzündet hatte, da ich ausgekleidet war und in dem Bette lag: hatte ich erst die rechte Zeit und nahm mir die rechte Muße, über das Benehmen meines Nachbars nachzudenken. Es mußte mir in der Tat bedeutend auffallen, und ich konnte nicht anders, als mir Vermutungen darüber zu machen. Ich hätte in der frühern Zeit eher gedacht, daß der mittelgroße, hagere, blasse Mann durch Töne nicht gar leicht zu bewegen sein müsse; denn in dem Wesen desselben lag etwas Stilles, mitunter auch Trockenes, aber immer etwas, das sich nicht aufdringt, sondern eher in sich zurück tritt und verschließt. Daß wir ihn Paganini nannten, war mehr Schalkheit, durch die flüchtigste äußere Ähnlichkeit angeregt, als daß wir ihm diese Kunst zutrauten. Es boten sich mir drei Arten dar, sein heutiges Benehmen zu erklären. Entweder war er wirklich für Musik so empfänglich, daß das außerordentliche Spiel der Geschwister Milanollo auf ihn so wirkte, daß er nicht mehr Herr seiner Bewegung war und in die Tränen ausbrach, die wir an ihm sahen. Dann aber ist es nicht erklärlich, daß ich das nie früher bemerkt hatte; denn ungewöhnliche Empfänglichkeiten für ein Ding offenbaren sich meistens sehr bald, sei es durch die Rede, welche der Empfängliche gerne auf das Ding hinlenkt, sei es ein wenn auch minder bedeutender Anlaß, der das Ding herbei führt und die Empfänglichkeit darlegt. Oder es mochte beimeinem Nachbar auch der zweite Fall sein, daß er nämlich zu jener Art Menschen gehört, die, ohne es zu wissen, eigentlich tiefes Gefühl haben, das nur außerordentlich schwer aufgeschlossen wird, aber, wenn es aufgeschlossen ist, desto stärker und nachhaltiger dahin strömt. An solchen Menschen gehen oft Töne, Farben und andere Gelegenheiten Jahre lang ohne Wirkung vorüber, wie Wasser über einen Felsen; aber von ungefähr werden sie durch einen Anlaß von ihrem unbekannten Innern ergriffen, daß sie seiner Gewalt, die sie überkommt, gar nicht zu steuern wissen, ihr wie Kinder ohne Hilfe hingegeben sind und ihre Ratlosigkeit vor aller Welt offenbaren müssen. Solche Menschen werden von ihren Gefühlen viel stärker erschüttert als andere, die ihr Herannahen merken und tausend kleine Waffen dagegen in Bereitschaft halten. Aber auch gegen diesen zweiten Fall streitet der sonderbare Ausruf, den mein Nachbar im Wagen machte: ›Unglücklicher Vater, unglücklicher Vater.‹ Dieser Ausruf stimmt mit bloßer, wenn auch starker Erregung durch schöne Darlegung einer außerordentlichen Kunst nicht überein. Es bleibt daher der dritte Fall über, daß nämlich in dem Leben dieses Mannes, der jetzt in dem Zimmer neben mir einsam schläft, irgend unbekannte Verhältnisse sein mögen, die in Beziehung und Verbindung mit dieser Musik die Erregung so stark machten, daß er sie von Menschen weg inVerborgenheit trug und sich nicht mehr die wenigen Bissen Essen gönnen konnte, die ergewöhnlich zu seinem Abendmahle einnahm.
Ich beschloß daher, mir von der Sache gegen ihn gar nichts merken zu lassen und ihrer, wenn er nicht selber etwas sagte, nicht zu erwähnen.
Ehe ich einschlief, dachte ich auch noch an die mir so lieb gewordene Theresa. Es ist also nicht, wie ich anfangs gefürchtet hatte, bloße außerordentliche Fertigkeit an ihr, sondern sie
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