Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
Auf meinen Lesereisen werden mir häufig dieselben Fragen gestellt: Hat er es wirklich getan? Sind Sie der Meinung, daß er recht hatte? Haben sie aus Geldgier oder aus Liebe gehandelt?
Danach wenden sich die Fragen unweigerlich meiner Person zu. Warum ich solche Bücher schreibe, wollen die Leute wissen. Warum ich Journalistin geworden bin.
In meinen Büchern geht es um Verbrechen – kaltblütige Akte des Verrats oder gefühlsgeladene Verbrechen aus Leidenschaft –, und mancher findet es vielleicht eigenartig, daß ich als Frau mich so stark für Gewalt interessiere. Andere möchten wissen, warum ich einen Beruf gewählt habe, der mich zwingt, unangenehmen Tatsachen nachzuspüren und den Menschen Fragen zu stellen, auf die sie am liebsten keine Antwort gäben.
Manchmal sage ich dann, meine Arbeit habe Ähnlichkeit mit der eines Privatdetektivs, aber meistens gebe ich die Standarderklärung, die ich immer parat habe: daß ich wohl Journalistin geworden bin, weil schon mein Vater Journalist war.
Mein Vater hat in einer kleinen Stadt in West-Massachusetts eine Zeitung namens East Whatley Eagle herausgegeben. Was Großartiges war sie nie, nicht einmal in ihrer Glanzzeit Anfang der sechziger Jahre. Aber ich war, wie das bei Töchtern meistens der Fall ist, überzeugt davon, mein Vater verstünde eine Menge von seinem Beruf, oder Handwerk, wie er zu sagen pflegte.
»Die Story ist immer schon da, bevor du von ihr hörst«, sagte er oft, bevor er mich, sein einziges Kind und damals noch ein Teenager, losschickte, über einen Ladendiebstahl oder einen Brand in der Scheune eines Bauern zu berichten. »Die Aufgabe des Reporters ist lediglich, die Geschichte in Form zu bringen.«
Mein Vater hat mir fast alles beigebracht, was dazu gehört, eine Zeitung zu machen: Redigieren, Setzen, Anzeigenverkauf, Berichterstattung. Und ich weiß, er hoffte, ich würde in East Whatley bleiben und eines Tages seinen Verlag übernehmen. Aber ich enttäuschte ihn. Ich verließ West-Massachusetts und ging nach New York. Dort studierte ich Journalismus und begann, nachdem ich meinen Abschluß gemacht hatte, bei einem wöchentlich erscheinenden Nachrichtenmagazin zu arbeiten.
Aber meinen Vater und all das, was ich von ihm gelernt hatte, vergaß ich nicht. Und in den Jahren der Arbeit – während ich für das Nachrichtenmagazin schrieb, mein erstes, auf einem meiner Artikel beruhendes Buch veröffentlichte, das mir einen gewissen Ruhm und einiges an Geld einbrachte und mich schließlich als Autorin von Sachbüchern etablierte, in denen es fast ausschließlich um die detaillierte Untersuchung komplexer Verbrechen geht – habe ich mir immer wieder mal die Frage gestellt, warum ich eigentlich in die Fußstapfen meines Vaters getreten bin. Warum ich mich nicht beispielsweise für Architektur oder Medizin oder eine Laufbahn als Hochschuldozentin entschieden habe.
Weil ich die Erfahrung gemacht habe, daß es nicht einfach um den Journalisten und die Fakten geht, wie mein Vater glaubte und mich glauben machen wollte, sondern vielmehr um die Geschichte und darum, wie sie erzählt wird – ein uraltes Problem eigentlich.
Genauer gesagt – was macht die Person, die die Geschichte erzählen will, mit ihrem Material, wenn sie die Tatsachen beisammen hat, sei es, daß sie ihr berichtet wurden oder sie Ergebnis ihrer Nachforschungen sind?
Ich habe viel und gründlich über diese Frage nachgedacht. Manchmal bis zur Besessenheit. Deshalb ist es vermutlich kein Wunder, daß sie mir gerade auch in dem Moment durch den Kopf ging, als ich der jungen Frau gegenüber Platz nahm, die vor mir auf der Kante ihres schmalen Betts saß.
Ich war seit Jahren nicht mehr in einem Studentenwohnheim gewesen – seit 1965 nicht mehr, als ich mein Studium am Barnard College beendet hatte. Aber wenn auch an den Zimmerwänden Poster von Rockgruppen hingen, von denen ich nie gehört hatte, und auf dem Regal ein Telefon und ein Sony Walkman standen, unterschied sich die Einrichtung des Zimmers nicht wesentlich von dem, was ich aus meiner Studienzeit kannte: ein Schreibtisch, ein Stuhl, ein Bücherregal, ein Bett und auf dem Fensterbrett ein kühlgestellter Orangensaft.
Es war der Februar im ersten Jahr des neuen Jahrzehnts. Draußen fiel dünner grauer Schnee, kaum der Rede wert, doch die Bewohner dieser Universitätsstadt im Herzen von Maine hatten, wie ich an der örtlichen Tankstelle gehört hatte, seit Anfang November kein Grün mehr gesehen.
Die Füße in den
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