Werke
ihren Scheitel schien, setzte sie ihn auf. Sie legte den Strauß von Feldblumen, den sie gebracht hatte, auf den Tisch, und fing an, die einzelnen Gewächse heraus zu suchen und gleichsam zu einem neuen Strauße zu ordnen.
»Wo bist du denn gewesen?« fragte die Mutter.
»Ich bin zu mehreren Rosenstellen in dem Garten gegangen,« antwortete Natalie, »ich bin zwischen den Gebüschen neben den Zwergobstbäumen und unter den großen Bäumen, dann zu dem Kirschbaume empor und von da in das Freie hinaus gegangen. Dort standen die Saaten, und es blühten Blumen zwischen den Halmen und in dem Grase. Ich ging auf dem schmalen Wege zwischen den Getreiden fort, ich kam zur Felderrast, saß dort ein wenig, ging dann auf dem Getreidehügel auf mehreren Rainen ohne Weg zwischen den Feldern herum, pflückte diese Blumen, und ging dann wieder in den Garten zurück.«
»Und hast du dich denn lange auf dem Berge aufgehalten, und hast du alle Zeit zu dem Aufsuchen und Pflücken dieser Blumen verwendet?« fragte Mathilde.
»Ich weiß nicht, wie lange ich mich auf dem Berge aufgehalten habe; aber ich meine, es wird nicht lange gewesen sein,« antwortete Natalie, »ich habe nicht bloß diese Blumen gepflückt, sondern auch auf die Gebirge geschaut, ich habe auf den Himmel gesehen, und auf die Gegend, auf diesen Garten und auf dieses Haus geblickt.«
»Mein Kind,« sagte Mathilde, »es ist kein Übel, wenn du in den Umgebungen dieses Hauses herum gehst; aber es ist nicht gut, wenn du in der heißen Sonne, die gegen Mittag zwar nicht am heißesten ist, aber immerhin schon heiß genug, auf dem Hügel herum gehst, welcher ihr ganz ausgesetzt ist, welcher keinen Baum – außer bei der Felderrast – und keinen Strauch hat, der Schatten bieten könnte. Und du weißt auch nicht, wie lange du in der Hitze verweilest, wenn du dich in das Herumsehen vertiefest, oder wenn du Blumen pflückest und in dieser Beschäftigung die Zeit nicht beachtest.«
»Ich habe mich in das Blumenpflücken nicht vertieft,« erwiderte Natalie, »ich habe die Blumen nur so gelegentlich gelesen, wie sie mir in meinem Dahingehen aufstießen. Die Sonne tut mir nicht so weh, liebe Mutter, wie du meinst, ich empfinde mich in ihr sehr wohl und sehr frei, ich werde nicht müde, und die Wärme des Körpers stärkt mich eher, als daß sie mich drückt.«
»Du hast auch den Hut an dem Arme getragen«, sagte die Mutter.
»Ja, das habe ich getan,« antwortete Natalie, »aber du weißt, daß ich dichte Haare habe, auf dieselben legt sich die Sonnenwärme wohltätig, wohltätiger, als wenn ich den Hut auf dem Haupte trage, der so heiß macht, und die freie Luft geht angenehm, wenn man das Haupt entblößt hat, an der Stirne und an den Haaren dahin.«
Ich betrachtete Natalie, da sie so sprach. Ich erkannte erst jetzt, warum sie mir immer so merkwürdig gewesen ist, ich erkannte es, seit ich die geschnittenen Steine meines Vaters gesehen hatte. Mir erschien es, Natalie sehe einem der Angesichter ähnlich, welche ich auf den Steinen erblickt hatte, oder vielmehr in ihren Zügen war das nämliche, was in den Zügen auf den Angesichtern der geschnittenen Steine ist. Die Stirne, die Nase, der Mund, die Augen, die Wangen hatten genau etwas, was die Frauen dieser Steine hatten, das Freie, das Hohe, das Einfache, das Zarte und doch das Kräftige, welches auf einen vollständig gebildeten Körper hinweist, aber auch auf einen eigentümlichen Willen und eine eigentümliche Seele. Ich blickte auf Gustav, der noch immer neben dem Tische stand, ob ich auch an ihm etwas Ähnliches entdecken könnte. Er war noch nicht so entwickelt, daß sich an ihm schon das Wesen der Gestalt aussprechen konnte, die Züge waren noch zu rund und zu weich; aber es deuchte mir, daß er in wenigen Jahren so aussehen würde, wie die Jünglingsangesichter unter den Helmen auf den Steinen aussehen, und daß er dann Natalien noch mehr gleichen würde. Ich blickte auch Mathilden an; aber ihre Züge waren wieder in das Sanftere des Alters übergegangen; ich glaubte desohngeachtet, vor nicht langer Zeit müßte auch sie ausgesehen haben, wie die älteren Frauen auf den Steinen aussehen. Natalie stammte also gleichsam aus einem Geschlechte, das vergangen war, und das anders und selbstständiger war als das jetzige. Ich sah lange auf die Gestalt, welche beim Sprechen bald die Augen zu uns aufschlug, bald sie wieder auf ihre Blumen nieder senkte. Daß ihr Haupt so antik erschien, wie der Vater mit einem altrömischen
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