Werke
(Massen), in welchem diese Kräfte wirksam sind, versichert sein können, ob man gleich irgend einmal wenig oder gar nichts von ihnen gewußt: eben so können wir uns von hundert, von tausend andern Kräften in ihren Massen versichert halten, ob wir gleich von ihnen noch nichts wissen, welchen allen ein besonderer Sinn entspricht.
19) Von der Zahl dieser uns noch unbekannten Sinne ist nichts zu sagen. Sie kann nicht unendlich sein, sondern sie muß bestimmt sein, ob sie schon von uns nicht bestimmbar ist.
20) Denn wenn sie unendlich wäre, so würde die Seele in alle Ewigkeit auch nicht einmal zum Besitze zweier Sinne zugleich haben gelangen können.
21) Eben so ist auch nichts von den Phänomenen zu sagen, unter welchen die Seele im Besitz jedes einzeln Sinnes erscheint.
22) Wenn wir nur vier Sinne hätten, und der Sinn des Gesichts uns fehlte, so würden wir uns von diesem eben so wenig einen Begriff machen können, als von einem sechsten Sinne. Und also darf man an der Möglichkeit eines sechsten Sinnes und mehrerer Sinne eben so wenig zweifeln, als wir in jenem Zustande an der Möglichkeit des fünften zweifeln dürften. Der Sinn des Gesichts dient uns, die Materie des Lichts empfindbar zu machen, und alle derselben Verhältnisse gegen andere Körper. Wie viel andere dergleichen Materie kann es nicht noch geben, die eben so allgemein durch die Schöpfung verbreitet ist!
Dieses mein System ist gewiß das älteste aller philosophischen Systeme. Denn es ist eigentlich nichts als das System von der Seelenpräexistenz und Metempsychose, welches nicht allein schon Pythagoras und Plato, sondern auch vor ihnen Ägyptier und Chaldäer und Perser, kurz alle Weisen des Orients, gedacht haben.
Und schon dieses muß ein gutes Vorurteil dafür wirken. Die erste und älteste Meinung ist in spekulativen Dingen immer die wahrscheinlichste, weil der gesunde Menschenverstand sofort darauf verfiel.
Es ward nur dieses älteste, und wie ich glaube, einzig wahrscheinliche System durch zwei Dinge verstellt. Einmal –
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Gotthold Ephraim Lessing
Gespräche
über die Soldaten und Mönche
Karl Lessing: G.E. Lessings Leben, Berlin (Voss) 1795.
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A. Muß man nicht erschrecken, wenn man bedenkt, daß wir mehr Mönche haben als Soldaten?
B. Erschrecken? Warum nicht eben sowohl erschrecken, daß es weit mehr Soldaten gibt als Mönche? Denn eins gilt nur von dem und jenem Lande in Europa; und nie von Europa überhaupt. Was sind Mönche? und was sind denn Soldaten?
A. Soldaten sind Beschützer des Staats etc!
B. Mönche sind Stützen der Kirche!
A. Mit eurer Kirche!
B. Mit eurem Staate!
A. – – – – –
B. Du willst sagen: daß es weit mehr Soldaten gibt als Mönche.
A. Nein, nein, mehr Mönche als Soldaten.
B. In dem und jenem Lande von Europa magst du Recht haben. Aber in Europa überhaupt? Wenn der Landmann seine Saat von Schnecken und Mäusen vernichtet siehet: was ist ihm dabei das Schreckliche? daß der Schnecken mehr sind als der Mäuse? Oder daß es der Schnecken oder der Mäuse so viel gibt?
A. Das versteh’ ich nicht.
B. Weil du nicht willst. – Was sind denn Soldaten?
A. Beschützer des Staats.
B. Und Mönche sind Stützen der Kirche.
A. Mit eurer Kirche!
B. Mit eurem Staate!
A. Träumst du? der Staat! der Staat! das Glück, welches der Staat jedem einzelnen Gliede in diesem Leben gewährt.
B. Die Seligkeit, welche die Kirche jedem Menschen nach diesem Leben verheißt.
A. Verheißt!
B. Gimpel!
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Gotthold Ephraim Lessing
Die Religion Christi
Denn der Vater will auch haben, die ihn also anbeten.
St. Johannes
G.E. Lessings theologischer Nachlaß, hg. v. Karl Lessing, Berlin (Voss) 1784.
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§ 1
Ob Christus mehr als Mensch gewesen, das ist ein Problem. Daß er wahrer Mensch gewesen, wenn er es überhaupt gewesen; daß er nie aufgehört hat, Mensch zu sein: das ist ausgemacht.
§ 2
Folglich sind die Religion Christi und die christliche Religion zwei ganz verschiedene Dinge.
§ 3
Jene, die Religion Christi, ist diejenige Religion, die er als Mensch selbst erkannte und übte; die jeder Mensch mit ihm gemein haben kann; die jeder Mensch um so viel mehr mit ihm gemein zu haben wünschen muß, je erhabener und liebenswürdiger der Charakter ist, den er sich von Christo als bloßen Menschen macht.
§ 4
Diese, die christliche Religion, ist diejenige Religion, die es für wahr annimmt, daß er mehr als Mensch gewesen, und ihn selbst als solchen, zu einem Gegenstande ihrer
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