Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Werke

Werke

Titel: Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Theodor Storm
Vom Netzwerk:
zärtlicher sich an ihren Bruder drängend, unter tiefem Atemholen ihre dunklen Augen von der Tafel aufschlug, bis eine neue, leise gesprochene Ermahnung sie hastig wieder abwärts blicken ließ. – ›Das Kind einer toten Mutter‹, so hatte ich von einer alten feinen Dame ihr Äußeres einmal bezeichnen hören; meine Phantasie ging jetzt noch weiter: ich hatte vor kurzem in einem englischen Buche von den Willis gelesen, welche im Mondesdämmer über Gräbern schweben; seit dieser Stunde dachte ich mir jene jungfräulichen Geister nur unter der Gestalt der blassen Phia Sternow; aber auch umgekehrt blieb an dem Mädchen selber etwas von jenem bleichen Märchenschimmer haften.
    ›Nein, kleine Phia‹, hörte ich jetzt Archimedes sagen, ›du wirst dein Leben lang kein Rechenmeister!‹
    Ich sah noch, wie sie fast heimlich die Arme um den Hals des Bruders schlang; dann war sie, ich weiß nicht wie, verschwunden, und Archimedes hatte seine Augen zärtlich auf die geschlossene Stubentür gerichtet. ›Sie kann nicht rechnen‹, sagte er. ›Außerordentlich; aber sie kann gar nicht rechnen!‹
     
    Eine Art phantastischen Mitleids mit diesem Kinde hatte sich meiner bemächtigt. Ich begann wieder, wenn ich dort vorbeiging, durch die Plankenritzen in den etatsrätlichen Garten hineinzuspähen, hinter welchem sich ein wenig benutzter Fußweg mit dem Kirchhofswege kreuzte. Und oftmals nach der Nachmittagsschulzeit, wenn die Gartenruhe des Herrn Etatsrats längst vorüber war, habe ich sie dort beobachtet; meistens in dem vom Hause abgelegeneren Teile, wo die an der Planke hingereihten Linden und eine Menge alter Obstbäume die darunter liegenden Rasenpartien fast ganz beschatteten. Hier sah ich sie, in der niedrigen Astgabel eines Baumes sitzen, an einem Kranz aus Immergrün und Primeln winden; ich sah sie dann, da ich nach längerer Zeit denselben Weg zurückkam, das dunkle Köpfchen mit dem fertigen Kranze geschmückt, auf den schon dämmerigen Gartensteigen hin und wider wandeln, die Hände ineinandergefaltet, wie in heimlicher Glückseligkeit. Als es Herbst geworden war, sammelte sie wohl auch einen Apfel aus dem tiefen Grase und biß frisch hinein mit ihren weißen Zähnchen; aber immer sah ich sie allein; niemals war eine Gespielin bei ihr, welche mit ihr in die saftigen Äpfel hätte beißen oder sie in ihrem Primelkranze hätte bewundern können. Den letzteren hatte ich einige Tage nach seiner Anfertigung auf einem vernachlässigten Grabe des nahen Kirchhofs liegen sehen; es mochte ihr leid geworden sein, sich so für sich allein damit zu schmücken.
    Aber auch in der Schule schien die Tochter des Etatsrats keine Genossin zu haben, wenigstens hatte ich mehrfach beobachtet, wie sie auf dem Heimwege mit ihrer schweren Büchertasche allein hinter dem plaudernden Schwarm einherging, der Arm in Arm die ganze Straßenbreite einnahm.
    ›Warum‹, sagte ich zu meiner Schwester, ›laßt ihr Sophie Sternow so allein gehen?‹
    Sie sah mich mit ihren lebhaften Augen an. ›Bist du plötzlich Sophie Sternows Ritter geworden?‹
    Beschämt, meine zarten Empfindungen verraten zu haben, erwiderte ich nachlässig: ›Ich meinte nur, sie tut mir leid; ist sie denn nicht nett?‹
    ›Nett? Ich weiß nicht; ich glaube wohl, daß sie ganz nett ist.‹
    ›Du sagst das ja, als wenn du Almosen austeiltest!‹
    ›Nein, nein; ich kann sie ganz gut leiden, aber sie will nur immer meine Freundin werden!‹
    ›Und warum willst du das denn nicht?‹
    ›Warum? Ich habe ja schon eine; man kann doch nicht zwei Freundinnen haben!‹
    ›So könntest du sie doch einmal zu dir einladen‹, sagte ich nach einigem Bedenken.
    ›Die Blasse scheint dir ja sehr am Herzen zu liegen!‹ erwiderte meine Schwester mit einem unausstehlichen Anstarren.
    ›Ach, Unsinn! Sie dauert mich; ihr Mädchen seid hartherzige Kreaturen.‹
    Nach diesem geschwisterlichen Zwiegespräche kam Archimedes’ Schwester einige Male in unser Haus. Mit Genugtuung beobachtete ich, wie meine Mutter das schmächtige Mädchen zärtlich zu sich heranzog; es war unverkennbar, daß diese sich dann Gewalt antat, um nicht die ungewohnte Liebkosung mit allem Ungestüm der Jugend zu erwidern. Im übrigen war sie schüchtern, besonders wenn sie die Hand zum Abschied reichte; es schien sie dann zu drücken, daß sie nicht auch ihrerseits meine Schwester zu sich einladen konnte. Aber eines Sonntagsvormittags erschien sie strahlend mit vor Freude geröteten Wangen. ›Ich soll dich

Weitere Kostenlose Bücher