Katzenhöhle
1
Sie wusste nicht, wie lange sie noch hier bleiben würde. Auf jeden Fall nicht für immer, das hatte sie schon als Kind gespürt – vielleicht eine Woche oder zwei oder auch länger. Im Augenblick tendierte sie eher zu letzterem. Die Wohnung gefiel ihr, auch wenn sie die drei Zimmer anders gestaltet hätte, mit mehr Eleganz, Esprit und vor allem ohne die vielen Statuen in diesen widerwärtigen Stellungen. Was fand Lena bloß daran? Erotisch sollten sie sein, so genannte Akt-Studien. Stattdessen waren sie einfach nur vulgär. Da trieben es Männer und Frauen von hinten, vorne, oben und unten, sogar von seitwärts miteinander.
Sie knotete den Bademantel zu und begutachtete eine der Skulpturen genauer. Es war eine etwa 40cm-große, massive Plastik aus Carrara-Marmor. Wo Lena die wohl her hatte? Von einer der Auktionen, die sie heimlich besuchte, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wie man einem verborgenen Laster frönte? Die feinen, rötlichen Adern zauberten Leben in die blassen Arme und Schenkel aus Stein, die sich so eng umschlangen, als ob sie nie wieder voneinander lassen könnten. Die Köpfe waren ohne Gesicht. Was zählte, waren die Leiber, dem ewigen Spiel zwischen den Geschlechtern verfallen, voller Hingabe und ohne einen Gedanken an das Danach. Ob diese beiden wussten, was sie am nächsten Tag erwartete? Oder in ein paar Wochen, Monaten? Ob sie jetzt schon an die endlosen Streitereien dachten, die zu jeder Beziehung gehörten – ebenso wie Verlangen und Lust? An die ermüdenden Vorhaltungen, an falsche Träume und Erwartungen? Sicher nicht, sonst hätten sie sich nicht so leidenschaftlich aneinander geschmiegt, ineinander versunken, für immer.
Angeekelt wandte sie sich ab. Sie hatte nicht die geringste Absicht, ausgerechnet jetzt über dieses lästige Thema nachzudenken. Schließlich war sie deshalb hierher gekommen: um Ruhe zu finden. Weg mit den dummen Gedanken, die plagten sie ohnehin viel zu oft – und raubten ihr die Energie. Wie lange würde sie dieses Mal brauchen, um sich wieder zu fangen? Oder gar, um sich für neue Wege zu entscheiden? Schließlich weiß niemand, was der Morgen bringt.
Ein paar Tropfen Wasser sammelten sich auf dem Teppich, sie hatte sich nicht sorgfältig genug abgetrocknet. Die Entspannung in der Badewanne hatte ihr gut getan. Es war ihr sogar gelungen, die Auseinandersetzung mit Lena zu verdrängen. Aber jetzt perlten die Erinnerungen daran wie das ölige Wasser über ihre Haut und suchten nach einer Öffnung, in die sie ungehindert eindringen konnten. Auf einmal bezweifelte sie, ob es eine so gute Idee gewesen sei, ausgerechnet bei Lena Schutz zu suchen.
Ein Luftzug streifte sie. Sie hatte das Fenster im Bad offen gelassen – das musste sie noch zumachen, bevor sie zu Bett ging. Sie war zwar nicht in Berlin oder London, nur in Regensburg. In diesem Kaff gab es bestimmt nicht einmal halb so viele Gelegenheitseinbrecher wie anderswo. Vorher aber würde sie sich einen Whisky genehmigen. Darauf freute sie sich schon den ganzen Abend. Ach was, den ganzen Nachmittag, seit den zwei Gläsern nach dem Mittagessen.
Sie ging zur Glasvitrine und goss sich großzügig ein Glas voll. Das bernsteinfarbene Gold funkelte verheißungsvoll in dem dickwandigen, milchig gewordene Trinkrelikt aus früheren Tagen. Lena hatte es bei ihrem Auszug von zu Hause mitgenommen, gegen den Rat der Mutter, die das Pressglas am liebsten zum Entrümpeln gegeben hätte. Aber so war Lena: Sie hielt an allem fest, was alt und vergangen war. Egal ob an Dingen, Menschen oder Gefühlen. Schon immer hatte sie sich gegen das Neue gesperrt, gegen Veränderungen und Wagnisse. Kein Wunder, dass sie es nicht zu mehr als zu dieser einfachen Wohnung gebracht hatte, voll gestopft mit ungelebten Träumen und Sehnsüchten nach Abenteuern, die sie nie erleben würde.
Entschlossen setzte sie sich so auf die Couch, dass sie die Marmorskulptur mit dem seitwärts kopulierenden Paar nicht mehr sehen konnte. Solche unnützen erotischen Phantasien überließ sie lieber Lena. Ihr Blick fiel auf die gelben Rosen auf der Holzkommode. Was für ein kluger Schachzug, Lena ausgerechnet diese Blumen mitzubringen … Obwohl sie nicht mehr daran denken wollte, grübelte sie wieder darüber nach, wie die Verrenkung dieser Zwei in der Praxis überhaupt möglich sein sollte. Oder versteckte sich hinter Exzessen wie diesem die schöpferische Freiheit eines durchgeknallten Bildhauers, der im Drogenwahn nicht mehr wissen konnte, wozu der
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