Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Whitley Strieber

Whitley Strieber

Titel: Whitley Strieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Kuss des Vampirs
Vom Netzwerk:
möglichen gefährlichen Dinge zu tun – er kletterte auf Berge, duellierte sich und ging auf endlose Rei- sen. Und bei all dem suchte er im Grunde nur eines: den Tod. Ihr Vater war 1937 bei der Explosion der Hindenburg ums Leben ge- kommen – wie seine Lamia vom Feuer verzehrt. Er rettete zahllose Menschen vor den Flammen, und in dem alten Wochenschau-Bericht kann man die Leute sehen, denen er hilft, aus den Fenstern zu sprin- gen, während das brennende Luftschiff langsam zur Erde sinkt. Er selbst kommt als Letzter heraus, dann verliert sich seine Gestalt in der Feuersbrunst.
    Sie hatte sich diesen Bericht wieder und wieder angesehen und sich dabei nach einem letzten Gruß von ihm oder einer letzten sanften Be- rührung seiner Hand gesehnt.

Sie blieb stehen. Unten waren Geräusche zu hören. Gut, die Zusam- menkunft war schon in vollem Gange. Für die meisten Hüter dort unten war dies seit einem Jahrhundert der erste Kontakt mit ihresgleichen. Liebende hatten die gemeinsame Schwangerschaftsphase, und Mütter lebten mit ihren Kindern, aber davon abgesehen waren sie – wie Spin- nen – eine Spezies von Einzelgängern.
    Nach einigen weiteren Stufen blieb sie erneut stehen. Etwas, das sie dort unten hörte, kam ihr höchst befremdlich vor. Ihre Artgenossen lachten nicht. Außer ihrer Mutter und sich selbst hatte sie niemals einen Hüter lachen hören. Selbst ihr Vater hatte es nicht getan. Sie stieg einige Stufen hinab – und sah plötzlich etwas Unglaubli- ches. Auf dem dunklen Gemäuer neben ihr befand sich eine Zeich- nung. Nein, es war angemalt – mit Sprühfarbe angemalt. Sie musste den Kopf heben, um das gesamte Kunstwerk betrachten zu können, und sah, dass es ein grob an die Wand gesprühter, voll erigierter Pe- nis war.
    Graffiti?
    Ein Stück weiter unten sah sie Essensschachteln liegen, die noch nach schwarzem Pfeffer und Knoblauch rochen. Hüter aßen keine feste Nahrung. Sie konnten sie nicht verdauen. Ihre inneren Organe arbeiteten völlig anders als die des Menschen. Alkohol war etwas an- deres. Betrinken konnten sie sich zum Glück. Die Anderen verachteten Alkohol natürlich, aber Miriam schätzte edle Weine und genoss jede Form destillierten Alkohols von Armagnac bis Jim Beam.
    Sie stieg vorsichtig einige Stufen hinab und ging an den nach Es- sensresten riechenden Pappschachteln vorbei. Ihre Nase schnappte einen weiteren Geruch auf.
    Sie blieb stehen. Ihresgleichen bekam nur selten Angst, deswegen fürchtete sie sich nicht vor dem, was sie roch, sondern war verwirrt. Sie roch Menschen – den herben Geruch von erwachsenen Männern und den süßlich scharfen Duft von pubertierenden Jungen.
    Ein Schock durchfuhr sie, ebenso grell wie der Blitz, der die vorbeira- senden Wolken aufgerissen hatte. Plötzlich verstand sie den Grund für all die sonderbaren Zeichen: An diesem geheimen Ort hielten sich Menschen auf. Sie war so überrascht, dass sie einen unfreiwilligen Schrei ausstieß. Das Geräusch, das wehklagende, einsame Heulen ei- ner verletzten Raubkatze, hallte durch das Gewölbe.
    Unten erhoben sich aufgeregte Stimmen, dann leuchteten die wild umhergleitenden Lichtstrahlen mehrerer Taschenlampen auf. Schritte

kamen die Stufen hochgeschossen, und plötzlich stürmten zwei flu- chende abendländische Männer und drei halb nackte Thai-Jungen an ihr vorbei.
    Dann herrschte Stille, die nach einigen Augenblicken vom Scharren der Kakerlaken und vom forschenden Schnüffeln der Ratten durchbro- chen wurde. Mit vorsichtigen Schritten – als wate sie durch eine Kloake – stieg Miriam in das Heiligtum hinab und ging, böse knurrend, zwischen dem Schmutz und den Trümmern umher.
    Sie mussten den Versammlungsort verlegt haben. Aber warum hat- ten sie niemanden informiert? Hüter mochten eine einzelgängerische Rasse sein, aber die altertümlichen Gesetze schrieben vor, dass je- dem über eine so grundlegende Änderung Bescheid gegeben werden musste. Es sei denn – war sie wirklich so geächtet, dass ihre Artge- nossen einen Versammlungsort verlegen und es ihr als Einziger nicht mitteilen würden?
    Nein. Sie waren viel zu konservativ, um eine uralte Konvention zu brechen. Also hatte es vielleicht einen Notfall gegeben. Vielleicht war der Versammlungsort entdeckt worden und hatte in aller Eile verlegt werden müssen.
    Das musste es sein. Sie hatte keine Botschaft erhalten, weil dafür keine Zeit gewesen war.
    Aber dann sah sie unter den Trümmern eines umgeworfenen Bü- cherregals die vertrauten roten

Weitere Kostenlose Bücher