Tom Thorne 05 - In der Stunde des Todes
Der erste Tritt reißt ihn aus dem Schlaf. Und zerschmettert gleichzeitig seinen Schädel.
Obwohl sich die Bewusstlosigkeit wieder über ihn senkt, nimmt er die Pausen zwischen den einzelnen Tritten wahr – keine ist länger als ein oder zwei Sekunden. Sein Gehirn, das bereits anschwillt, erhält Gelegenheit für eine letzte Runde. Es sendet Gedanken und Anweisungen an sich selbst.
Zähle die Tritte. Zähle jeden Schlag in Fleisch und Knochen. Und die Pausen, seltsam und herrlich.
Zwei …
Es ist kalt in diesen frühen Morgenstunden – und feucht. Der Versuch zu schreien tut mörderisch weh, als die vom Gehirn kommende Nachricht zwischen die Knochenfragmente hindurchtanzt, die einmal seinen Kiefer bildeten.
Drei …
Es ist warm, das Gesicht des Babys in seinen Händen. Des Kindes, bevor es größer wurde und ihn zu verachten begann. Vergeblicher Griff nach dem zerknitterten und schmutzigen Brief in der Innentasche seiner Jacke. Die letzte Verbindung zu seinem früheren Leben. Als er danach greifen möchte, sind die kraftlosen Finger an seinem gebrochenen Arm zu nichts nutze.
Vier …
Er versucht, den Kopf zu drehen. Weg vom Schmerz und hin zur Wand. Sein Gesicht kratzt auf dem Boden, die Bartstoppeln hören sich an wie fernes Wellenbrechen. Zwischen seiner Wange und dem kalten Karton darunter spürt er das warme, klebrige Blut. Kurz sieht er den Schatten dort, wo das Gesicht seines Angreifers sein sollte. Er ist schwärzer als schwarz. Glatt wie Teer nach einem Regen. Liegt wohl am Licht.
Fünf …
Glaubt die Stiefelspitze zu spüren, wie sie durch die fragilen Rippenbögen stößt. In ihm herumtritt und seine Innereien malträtiert. Die Nieren – sind das seine Nieren! – werden gequetscht, als handle es sich um mit Wasser gefüllte Ballons.
Sechs, sieben, acht. Die Tritte kicken ihm das Bewusstsein aus dem Leib. Fühlen sich an, als hämmere irgendwo jemand gegen eine Tür, ein Vibrieren in seiner Schulter, seinem Rücken und seinen Oberschenkeln. Das Stöhnen und Knurren des Mannes über ihm wird leiser, entfernt sich immer mehr.
Dieser Wortschwall, die Farben- und Geräuschflut, die auf ihn einstürzen. Alles wird wirr und dunkel …
Er denkt. Er denkt, wie schrecklich und verzweifelt dieses Denken ist, wenn man es überhaupt noch so nennen kann. Spürt, dass der Schatten sich endlich von ihm abgewandt hat. Genießt die längere Pause, bis ihm dämmert, dass Schluss ist mit den Tritten.
Alles ist so anders, so unförmig, und das Blut läuft in den Rinnstein.
Er liegt regungslos. Ihm ist klar, er muss gar nicht erst versuchen, sich zu bewegen. Er klammert sich an seinen Namen und den Namen seines einzigen Kindes. Mit jeder intakten Gehirnzelle, die ihm noch verblieben ist, klammert er sich an diese Namen. Und an den Namen des Herrn.
Bittet ihn, ihm diese wenigen wertvollen Worte zu lassen, bis der Tod ihn holt.
Erstes Kapitel
Er wachte in einem Eingang gegenüber von Planet Hollywood auf, zu seinen Füßen eine Urinpfütze, die nicht von ihm stammte. Dazu kam die unangenehme Erkenntnis, dass er nicht träumte. Es gab keine weiche Matratze. Er wechselte ein paar Worte mit dem Streifenpolizisten, der ihn wachgerüttelt hatte, und suchte seine Habseligkeiten zusammen.
Er hob die Augen zum Himmel, als er sich auf den Weg machte, und hoffte, das Wetter bliebe schön. Diese Leere in ihm war wohl doch nicht Angst, sondern einfach Hunger.
Ob Paddy Hayes schon tot war? Hatte der junge Mann, dem man die Entscheidung aufgebürdet hatte, den Stecker bereits gezogen?
Der Weg durch das Londoner West End, wenn es den Schlaf abschüttelte und langsam erwachte, war jeden Tag aufs Neue eine Entdeckung. Jeden Morgen sah er etwas, das er noch nie zuvor gesehen hatte.
Der Piccadilly Circus war herrlich und der Leicester Square besser, als es auf den ersten Blick schien. Die Oxford Street war beschissener, als er gedacht hatte.
Natürlich war noch immer einiges los. Eine Menge Leute waren unterwegs, und der Verkehr war chaotisch. Selbst um diese Zeit waren auf der Straße mehr Leute unterwegs als landesweit auf den meisten Straßen zur Hauptverkehrszeit. Er hatte mal einen Film gesehen, der in London spielte, nachdem der Großteil der Bevölkerung durch irgendeine Krankheit in durchgeknallte Zombies verwandelt worden war. Darin gab es bizarre Szenen, in denen die ganze Stadt vollkommen menschenleer zu sein schien. Er wusste bis heute nicht, wie sie das gemacht hatten. Wahrscheinlich irgendwelche
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