Widersacher-Zyklus 02 - Die Gruft
den Fingern einer Hand abzählen. Vielleicht reichte schon ein Finger.
Und diese blonde Frau war zwar selbst keine Westphalen, aber die Mutter einer Westphalen. Die Mutter eines Kindes, das bald die Letzte der Westphalen sein würde. Die Mutter eines Kindes, das sterben musste.
Bin ich noch bei Verstand?
Als er an die Reise dachte, auf die er sich begeben hatte, die Zerstörung, die er bereits angerichtet hatte, überkam ihn das Grausen. Und er war erst auf halber Strecke.
Richard Westphalen war der Erste gewesen. Während Kusums Zeit an der Londoner Botschaft war er den Rakoshi geopfert worden. Er erinnerte sich an Richard: die angstgeweiteten Augen, das Gejammer, das Gebettel, als er sich vor den Rakoshi wand und in allen Einzelheiten jede Frage beantwortete, die Kusum ihm über seine Tanten und seine Tochter in den Vereinigten Staaten stellte. Er erinnerte sich, wie armselig Richard Westphalen um sein Leben gebettelt hatte und ihm alles – sogar seine augenblickliche Geliebte an seiner Stelle – angeboten hatte, nur damit er weiterleben dürfte.
Richard Westphalen war nicht ehrenvoll gestorben und sein Karma würde diesen Makel durch zahlreiche Inkarnationen mit sich tragen.
Die Lust, mit der Kusum den kreischenden Richard Westphalen den Rakoshi überlassen hatte, hatte ihn erschreckt. Er erfüllte eine Pflicht. Das sollte ihm kein Vergnügen bereiten. Aber zu der Zeit hatte er gedacht, bei den drei verbliebenen Mitgliedern der Westphalen-Familie würde es sich um Kreaturen handeln, die genauso abstoßend waren wie Richard, und dass er der Menschheit mit der Erfüllung seines Schwurs einen Dienst erweise.
Aber er hatte erkennen müssen, dass dem nicht so war. Die alte Dame, Grace Westphalen, war aus einem härteren Holz geschnitzt. Sie hatte sich gut geschlagen, bevor sie das Bewusstsein verlor. Sie war ohnmächtig, als Kusum sie den Rakoshi übergab.
Aber Richard und Grace waren Fremde gewesen. Vor den Opferzeremonien hatte er sie nur aus der Ferne gesehen. Er hatte ihre Angewohnheiten und Lebensweisen studiert, aber er war nie in ihre Nähe gekommen und hatte nie mit ihnen gesprochen.
Heute Nacht hatte er nur einen halben Meter von Nellie Paton entfernt gestanden und sich mit ihr über englische Pralinen unterhalten. Sie war freundlich, höflich und bescheiden. Und trotzdem musste sie gemäß seines Planes sterben.
Kusum rieb mit seiner verbliebenen Faust sein Auge und zwang sich, an die Perlen zu denken, die er an ihrem Hals gesehen hatte, die Juwelen an ihren Fingern, das luxuriöse Stadthaus, das ihr gehörte, der Reichtum, über den sie verfügte, alles erkauft mit dem Tod und der Zerstörung seiner Familie. Das Nellie Paton nicht wusste, wie ihr Reichtum erworben wurde, spielte da keine Rolle.
Ein Schwur ist geleistet…
Und für ein reines Karma musste der Schwur erfüllt werden. Auch wenn er zwischenzeitlich gefehlt hatte, konnte er alles wieder damit gutmachen, dass er seinen ersten Schwur, seinen Vrata, erfüllte. Die Göttin hatte es ihm in der Nacht geflüstert. Kali hatte ihm den Weg gewiesen.
Kusum überlegte, was für einen Preis andere gezahlt hatten – und in Kürze noch zahlen würden, –damit sein Karma reingewaschen wurde. Für die Befleckung dieses Karmas war niemand außer ihm selbst verantwortlich gewesen. Er hatte aus freien Stücken den Eid des Brahmacharya abgelegt und viele Jahre lang hatte er ein keusches und sexuell enthaltsames Leben geführt. Bis …
Seine Gedanken schreckten zurück vor den Tagen, die seinem Leben als Brahmachari ein Ende gesetzt hatten. Es gab Sünden – Patakas – , die jedes Leben befleckten. Aber er hatte Mahapataka begangen und damit sein Karma aufs Schwerste besudelt. Es war ein katastrophaler Rückschlag auf seiner Suche nach Moksha, der Befreiung vom Rad des Karmas. Es bedeutete, dass er schwer zu leiden hatte, bevor er als schlechter Mensch einer niederen Kaste wiedergeboren würde. Denn er hatte den Eid des Brahmacharya auf die abscheulichste Art gebrochen.
Aber den Vrata an seinen Vater würde er nicht brechen: Auch wenn das Verbrechen mehr als ein Jahrhundert zurücklag, mussten alle Nachkommen von Sir Albert Westphalen dafür sterben. Jetzt waren nur noch zwei übrig.
Ein neues Geräusch drang aus dem Laderaum herauf. Die Mutter kratzte an der Luke. Sie hatte die Spur aufgenommen und wollte jagen.
Er erhob sich und ging zur Kabinentür, dann blieb er unschlüssig stehen. Er wusste, Nellie Paton hatte die Pralinen erhalten. Vor
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