Wie Die Iren Die Zivilisation Retteten
Künstler gemäß sein, der siebenten das eines Hand-
werkers oder Landmannes, der achten das eines Sophisten oder
Volksschmeichlers, der neunten das eines Tyrannen. Wer unter al-
len diesen sein Leben gerecht geführt hat, der erlost ein besseres Geschick, wer aber ungerecht, der ein schlimmeres.
Platon ist der größte aller griechischen Prosaisten, und zwischen seinen dicht gewebten Sätzen erkennt man Fäden von zarter Schönheit und vollkommener Anmut. Er klingt wie kein anderer, und er
überzeugt uns nicht nur von der Größe seines Geistes, sondern auch vom genuinen Mystizismus seiner Seele. Er sagt uns gleich zu Beginn, daß er eine Metapher verwendet, doch wir können nicht anders – wir glauben, daß er die Welt hinter dem Vorhang geschaut hat. Er hat
zumindest ebensoviel mit der Weisheit des Ostens gemein – mit
Buddhismus und Taoismus – wie mit den nachfolgenden Philoso-
phien des Westens. Er ist schlichtweg der große Philosoph, und die Schwierigkeiten, ihn zu verstehen, rühren nicht von oberflächlicher Vernebelung her, sondern aus seiner wahren Tiefe. Niemand begreift Platon beim ersten Überfliegen.
So ging es auch Augustinus, und so entstand sein Bedarf an einem
Ashram und an Ruhe und philosophischer Kameradschaft. Augusti-
nus’ Geist hallte von den klangvollen Akkorden Platons wider: die rastlos wandernde Seele, die überall nach ihrem wahren Heim sucht und sich von Brackwasser nährt, während sie sich dunkel an den
Nektar und das Ambrosia des hohen Himmels erinnert. Platon hat
recht, und nichts in der antiken Welt gleicht seinen Beschreibungen 53
vom wundersamen goldenen Blitzen der Sehnsucht in der Schlakke
der Realität – in der Unverbundenheit des Universums. Wer sonst,
fragt sich Augustinus, spricht überhaupt von diesen Dingen? Und
antwortet: Saulus von Tarsus, der drahtige, glatzköpfige Jude, dessen seltsam aufdringliche Briefe, unterschrieben mit »Paulus«, die Christen als Bibeltext verwenden: »Denn das Fleisch gelüstet wider den Geist, und den Geist wider das Fleisch; dieselben sind widereinander, daß ihr nicht tut was ihr wollt.«
Sicherlich ist dies nur ein bedeutungsloser Zufall, denn was könnte ein schwitzender kleiner Niemand, der im Mittelmeerraum hin und
her flitzt, mit dem größten aller Philosophen gemein haben? Und
doch...
Augustinus beginnt, Paulus gründlich zu lesen. Er hält es für möglich, daß sogar Platon sich irrt – daß die Erkenntnis der Wahrheit keine Aufgabe ist, die der Philosoph sich selbst auferlegt und durch eigene Anstrengungen bewältigt. Hat der große Platon fälschlicher-weise Wissen mit Tugend gleichgesetzt? Wenn Fleisch und Geist
miteinander im Krieg liegen, muß dann nicht das menschliche Unternehmen fehlschlagen – selbst wenn die erhabensten Philosophen sich daran beteiligen? Ist Paulus der Wahrheit nicht näher, wenn er von ungeborenen Seelen (eben denen, die Platon mit seiner Metapher vom Wagenlenker beschreibt) sagt: »Denn welche er zuvor ersehen hat, die hat er auch verordnet, daß sie gleich sein soll ten dem Ebenbild seines Sohnes, auf daß derselbe der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern.
Welche er aber verordnet hat, die hat er auch gerecht gemacht. Welche er aber hat gerecht gemacht, die hat er auch herrlich gemacht?«
Mit anderen Worten: Wenn wir schlammbespritzten menschlichen
Wesen jemals die Wahrheit erkennen, können wir dies nur, weil Gott als eine Macht, die unbeschreiblich viel größer ist als unser kriegsge-schütteltes Selbst, es uns vorbestimmt hat und uns zu Höherem ruft.
Niemals werden wir es aus eigener Kraft schaffen.
Nachdem Augustinus diese Verbindung hergestellt hat, durchlebt
er eine Krise. Was er in den Bekenntnissen beschreibt, ist ein totaler emotionaler Zusammenbruch. Und das wegen einer bloßen Vorstellung? Ja, denn für Augustinus existieren Vorstellungen nicht ohne 54
ihren menschlichen Kontext. Er personifiziert alles, sogar die abstru-sesten philosophischen Äußerungen. Ohne Bildung wäre vermutlich
ein selbstzerstörerischer provinzieller Hilfsarbeiter aus ihm geworden, der hier und da mit Feuerchen herumkokelt. Doch die Disziplin seiner Erziehung verwandelt ihn in diesen außergewöhnlichen Menschen: weder ein abgehobener Akademiker noch ein prahlerischer
Upper-class-Gebildeter, sondern ein feinfühliger Mann, der Ideen
ernsthaft überdenkt. Ähnlich wie bei Tolstoi und Joyce, beides gebildete Wilde, fließt auch in ihm immer das schäumende Blut
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