Cholerabrunnen
Prolog
Immer noch regnet es. Das schon seit Tagen. Harald Bauer schüttelt den Kopf. Gleich sieht er noch mehr Tropfen um ihn herumwirbeln. Dann steckt er sich die Kopfhörer in die Ohren, versucht, deren Vorhandensein mit der weiten Kapuze zu verbergen. Mit sechsundvierzig will er sich nicht als junger Schnösel outen. Nachrichten zu hören… das ist jedoch wichtig. Gerade in den letzten Tagen. Sein Haus steht nahe am Wasser. Ungern verließ er es heute, wollte doch gar nicht herkommen. Die Anderen beknieten ihn. Nein, das ist falsch. Günther legte es fest. Es wäre nötig. Er fragt sich zwar immer noch, warum. Günther oder Rolf etwas abzuschlagen, das vergisst man jedoch sehr schnell. Gerade, wenn man von ihnen abhängig ist… sie ihm das Gefühl vermitteln, es zu sein.
Weiteres Tiefdruckgebiet. Wetterlage ähnlich, wie schon 2002. Man erwartet das schlimmste Hochwasser in Sachsen. Der Elbpegel scheint noch fast normal mit seiner doppelten Höhe gegenüber dem sonstigen Jahr. In Prag versinken Menschen in den Fluten, die Moldau schickt eine gewaltige Flutwelle zur Elbe und… irgendwann ist die dann hier. Er flucht vor sich hin. Am kommenden Wochenende wollte er sich ein paar schöne Stunden gönnen. Literaturfest in Meißen. Die gesamte Altstadt wird voller Menschen sein. Vorleser, Autoren, Zuhörer, Käufer. Er als Buchhändler mag solche Feste. Nicht, weil man dort viel absetzen könnte. Spontanläufe sind nichts für ihn. Die verwässern nur die Statistik… aber…
Verwässern. Nun ja, man hat nach diesem verrückten Frühling schon nichts anderes mehr im Kopf. Wird aber auch ein Hammer! Was, sagte Günther, werden sie heute endgültig beenden? Sagte er überhaupt etwas oder blaffte er wieder nur in den Hörer, als Harald nicht gleich Feuer und Flamme für das Treffen war?
Er winkt ab. Wer ihn beobachtet, greift sich sicher an den Kopf. Alle, und es sind nur wenige unterwegs, rennen an ihm vorbei, versuchen, sich so gut es irgend geht vor dem Wasser von oben und unten zu schützen, fluchen über umknickende Regenschirme oder Pfützen, die man schon nicht mehr vom normalen Fußweg unterscheiden kann. Dann kommt noch ein Wagen zu nahe heran, donnert mit sicher überhöhter Geschwindigkeit in die Lache um eine verstopfte Schleuse und schon schreien einige nach der Polizei, stehen da, nass wie die Pudel und nun auch noch bespritzt mit allem, was sich im sicher diese Woche noch nicht gereinigten Schnittgerinne sammelte. Schön, denkt Harald. Seit gestern soll meteorologischer Sommer sein.
Langsam rollt die schwarze Limousine in Richtung Hofkirche. Harald bemerkte sie nicht, schaut eben die Auslagen des Juweliers im nahen Hotel Taschenbergpalais an, steht mit dem Rücken zum Cholerabrunnen und zur Straße.
Teuer, denkt er. Viel zu teuer. Vor zwei Wochen fand er eine Einladung im Briefkasten. Man wolle das soundso lange Bestehen des Geschäftes feiern und lade interessierte Dresdner und weitere Kunden zur kleinen Feierstunde ein, wobei nach Champagnerempfang eine Fahrt in eine der traditionsreichsten Uhrenfabriken der Region erfolgen soll. Da entdeckt er eine deren Uhren. Sehen schon chic aus und am Design erkennt man schnell, um welche Preisklasse es sich handelt. Prestige. Er lächelt.
Der Wagen wird noch langsamer. Getönte Scheiben im Fonds. Die Harald Zugewandte gleitet eben lautlos ein kleines Stück nach unten. Würde sich auch nur ein Passant dafür interessieren, fiele sein Blick auf einen langen Lauf, der sich nur wenige Zentimeter aus dem Wageninneren nach außen schiebt, da verharrt, bis der Wagen steht. Vielleicht war da eben ein kleines Wölkchen. Hören konnte man schon wegen des monotonen Regentrommelns auch auf die sicher erst vor wenigen Stunden gewaschene Karosse der langen Limousine nichts. Der Lauf verschwindet, das Fenster schließt sich… der Wagen fährt langsam davon. Nur keine Aufregung.
Die entsteht eben an ganz anderer Stelle. Eine Frau, vielleicht Personal des Hotels und unterwegs zum entsprechenden Zugang, schreit auf, schaut auf den zusammengebrochenen Körper, sieht, wie sich ein dünner, roter Faden auf dem regennassen Pflaster seinen Weg sucht, bald schon wieder verschwindet.
Auflauf. Irgendwann schreien Polizeisirenen und irgendwer rief einen Krankenwagen, der, selbst jetzt, da man aus dem Juwelierladen Decken brachte, sich darum bemüht, am Getroffenen die letzte Auffrischung des Erste-Hilfe-Kurses zu testen, kaum mehr etwas ausrichten kann.
Ein
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