Wie Die Iren Die Zivilisation Retteten
Reich im frühen fünften Jahrhundert
richteten und eine ähnlich dramatische – und noch abruptere –
Veränderung, die an der Peripherie des Reiches vor sich ging, unbemerkt blieb. Während die römischen Länder vom Frieden ins Chaos
stürzten, gelangte Irland mit noch größerer Geschwindigkeit vom
Chaos zum Frieden. Wie hat Patrick das geschafft? Seine Bodenständigkeit und Wärme haben wir bereits betont. Doch dies sind Qualitä-
ten, die Feindseligkeit und Mißtrauen wecken und Menschen mit
starkem Willen kaum bekehren würden. Wir können sicher sein, daß
die Iren Patrick nach ihren eigenen hohen Maßstäben beurteilten: Sein Mut – seine Weigerung, vor ihnen Angst zu haben – muß sie sofort
beeindruckt haben; und als sich seine Mission über Jahre hinzog und schließlich deutlich zur lebenslangen Aufgabe wurde, muß seine
Treue und übernatürliche Großzügigkeit die meisten von ihnen tief bewegt haben. Denn er hatte ihre heidnischen Tugenden, Treue, Mut und Großzügigkeit, in die christlichen Äquivalente Glaube, Hoffnung 107
und Liebe verwandelt. Doch auch wenn diese einzigartige Tugend-
haftigkeit ihm Freunde gewonnen hat, muß sie nicht unbedingt überzeugt haben – zumindest nicht solch sture Menschen wie die Iren.
In der gesamten römischen Welt hatte das Christentum die Roma-
nisierung begleitet. Seine Verbreitung im Reich kann nicht von der Romanisierung getrennt betrachtet werden. So wie die Untertanen
römisch werden wollten, wollten sie bald auch Christen werden. Vom vierten Jahrhundert an diente die christliche Unterweisung zur Be-schleunigung der Romanisierung, ebenso wie in den USA die Mit-
gliedschaft bei den Episkopalen bis vor kurzem noch als schneller Weg zur Respektabilität galt. Nachdem der Kaiser dem Christentum
eine privilegierte Stellung verliehen hatte, erkannten die meisten Römer ohne Schwierigkeiten die Zeichen der Zeit und wußten, daß es in ihrem eigenen Interesse war, in die Kirche einzutreten. Auch wenn es zynisch und ahistorisch wäre zu sagen ‘ die Christianisierung in der Spätantike habe nur funktioniert, weil es um politische Vorteile oder gesellschaftliches Ansehen ging, wäre es naiv, sich vorzustellen, daß das Christentum das Reich allein mit seiner geistigen Überlegenheit überzeugte. Sicher waren die Christen der ersten drei Jahrhunderte, die am Christentum festhielten, als wäre es ein To- desurteil, au-
ßergewöhnlich fromm. Doch seit der Zeit Konstantins war die
Mehrzahl der zum Christentum Bekehrten ziemlich oberflächlich.
Augustinus hatte zwar enormen Einfluß auf die Geschichte, aber der formvollendete, distanzierte, kalkulierende Ausonius war ein weit typischerer Christ des späten Reiches als der ernste Bischof von Hippo.
Patrick konnte den künftigen Bekehrten keine weltlichen Verbesse-
rungen bieten, deshalb mußte er einen Weg finden, seine Botschaft mit ihren tiefsten Bedürfnissen zu verbinden. Es war eine Herausforderung, der sich niemand gestellt hatte seit jener Zeit, da das Christentum neu war und Frauen und Sklaven sich ihm anschlossen, um
ihren Status und ihre Würde als menschliche Wesen aufzuwerten.
Wenn wir verstehen wollen, welche erstaunliche Verbindung zwi-
schen dem Evangelium und dem irischen Leben Patrick herstellte,
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müssen wir noch tiefer in das Bewußtsein der Iren an diesem Wendepunkt ihrer Geschichte eindringen.
In ihr Bewußtsein – und, was vielleicht noch wichtiger ist, in ihr Unterbewußtsein. Denn in den Träumen des Volkes – wenn wir sie
richtig interpretieren – liegen seine tiefsten Ängste und größten Hoff-nungen. Wir kennen einige Träume der Iren, denn wir können ihre
Mythologie – ihre gemeinsame Traumgeschichte – zusammensetzen
aus den mündlichen Überlieferungen der vorchristlichen Zeit (wie z.
B. dem Tain), die später niedergeschrieben wurden, und aus den von Archäologen entdeckten Artefakten. Da uns weder die Erzählungen
noch die Artefakte eine umfassende Mythologie liefern können – also einen vollständigen irischen Traumzirkel –, müssen wir die Materialien so lesen, als wären sie Teile einer großen Schriftrolle.
Es wäre untertrieben zu behaupten, die irischen Götter seien nicht gerade besonders freundlicher Natur. Nur wenige der Darstellungen, die wir in Hügelgräbern oder Mooren aufgespürt haben, würden
einem Kind keine Alpträume oder einem Erwachsenen keine Gänse-
haut verursachen. Da gibt es keine glatthäutigen, gutgebauten
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