Wie Die Iren Die Zivilisation Retteten
Vorbilder im Boyne Valley. Doch diese Flut von Schmiedearbeiten, mit Feinheiten, die in Stein unmöglich waren, ist nur eine Wiederholung und Variation des Ursprungsthemas. Was war das für ein Thema? Gleichgewicht
im Ungleichgewicht. Nehmen wir zum Beispiel den Deckel der Bron-
zekiste, die zur Somerset-Sammlung aus Galway gehört: präzise
* Eine erstaunlich schlüssige Theorie in Martin Brennans Buch The Boyne Valley Vision (Portlaoise, 1980) lautet, daß die Linien auf den Steinen einen Kalender darstellen, der wie Stonehenge himmlische Konjunktionen berechnet.
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mathematisch, aber ganz bewußt (man könnte sagen pervers) asym-
metrisch – geschaffen von einem Schmied mit Fachwissen und einem
Augenzwinkern. Er ist deshalb so faszinierend weil die Zirkularität kein Ende hat. Wie die Spiralen von Newgrange scheint er zu sagen:
»Es gibt keinen Kreis; es gibt nur die Spirale, die immerwährend neu sich bildende Spirale. Es gibt keine geraden Linien, nur gekrümmte.«
Oder, um an die typisch irischen Antworten auf eindeutige Fragen zu erinnem: »Nun, so ist es, und so ist es nicht.« – »Sie tut es, und sie tut es nicht.« – »Du wirst, und du wirst nicht.«
Dieser Sinn für das Gleichgewicht im Ungleichgewicht, für die wil-de Komplexität, die innerhalb einer zugrundeliegenden Einheitlichkeit in ständiger Bewegung ist, sollte nun seinen außergewöhnlichsten Ausdruck in der christlichen Kunst der Iren finden – in den monu-mentalen Hochkreuzen, magischen liturgischen Gefäßen wie dem
Ardagh-Kelch und, am ausgefülltesten, in der Kunst des irischen
Kodex.
Das Wort Kodex wurde ursprünglich gebraucht, um ein Buch, wie wir es heute kennen, von seinem Vorläufer, der Schriftrolle, zu unterscheiden. Zur Zeit Patricks hatte der Kodex die Schriftrolle fast überall abgelöst, denn ein Kodex war sehr viel leichter zu lesen und durchzu-blättern als die unhandliche Rolle, die den entscheidenden Nachteil hatte, sich an der spannendsten Stelle ruckartig aufzurollen. Die Seiten der meisten Bücher bestanden aus fleckigem Pergament, also getrockneter Schafshaut, die überall erhältlich war – und nirgends leichter als in Irland, dessen strahlend grüne Wiesen noch heute in jedem April eine Explosion neuer Lämmer ernähren. Vellum oder
Kalbshaut, die ein nach dem Trocknen gleichmäßigeres Weiß aufwies, wurde für die wichtigeren Texte verwendet. (Die »weiße Bibelseite«
des »Eremiten-Liedes« istzweifellos Vellum.) Es ist ein interessanter Gedanke, daß das Format des modernen Buches – höher als breit –,
durch die Größe der Schaffelle bestimmt wurde, die am ökonomisch-
sten zu Doppelseiten geschnitten wurden und gefaltet die heutige
Buchform ergeben. Die Schreiber brachten die Texte auf die Seiten, sammelten diese in einem Heft, das Bogen genannt wurde, und nähten es später mit anderen Lagen zu einem Band zusammen, der an-
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schließend in einigen Fällen mit einem Schutzumschlag eingebunden wurde. Bücher und Pamphlete von geringerer Bedeutung blieben oft
ungebunden. Damit gab es bereits im fünften Jahrhundert eine Art
billiges Taschenbuch. Der berühmteste irische Kodex ist das Book of Kells; er befindet sich in der Bibliothek des Trinity College in Dublin.
Aber es sind auch zahlreiche Handschriften erhalten, deren Namen –
zum Beispiel Evangeliar von Echternach oder Evangeliar von Maihingen –
eine Vorstellung davon vermitteln, wie weit sie von den iro-britischen Skriptorien, aus denen sie ursprünglich stammten, fortgewandert
sind. Bewundernswert verzierte irische Manuskripte aus dem frühen Mittelalter gelten heute als kostbare Bibliotheksschätze in England, Frankreich, der Schweiz, Deutschland, Schweden, Italien und sogar Rußland. Wie kamen sie dorthin? Die Antwort liegt bei der größten irischen Persönlichkeit nach Patrick: Columcille, Prinz des Conaille-Clans, geboren in dem königlichen Anwesen von Gartan am 7. De-
zember 521, keine neunzig Jahre nachdem Patrick Bischof geworden
war.
Obwohl Columcille ein König hätte sein können, vielleicht sogar ein Hochkönig, beschloß er, Mönch zu werden. In seinem wirklichen
Namen – Crimthann oder Fuchs – klingt noch die alte Mythologie
nach. Wahrscheinlich war er rothaarig. Der Name Columcille oder
Kirchentaube war sein späterer Spitzname im Kloster. Wir werden
bald sehen, daß dies wohl ein ironischer Name war (zumindest wurde er zu Columban romanisiert; so wird er in den meisten Berichten
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