Wie Die Iren Die Zivilisation Retteten
sollte.
Nichts brachte die Verspieltheit der Iren deutlicher zum Vorschein als das Kopieren der Bücher, eine Aufgabe, die kein Leser der antiken Welt ganz vernachlässigen konnte. Am Anfang gab es in Irland keine nennenswerten Scriptorien, allen- falls einzelne Eremiten und Mönche, die in ihren kleinen Bienenstockzellen oder bei schönem Wetter draußen saßen und einen benötigten Text aus einem geliehenen Buch abschrieben: das alte Buch auf dem einen Knie, neue Seiten aus
Schafshaut auf dem anderen. Selbst in ihrer Blütezeit waren sie einfache »Freiluftmenschen«. (Noch im neunten Jahrhundert beschreibt ein irischer Kommentator, wie er im Wald unter einem Baum schrieb und einem Kuckuck zuhörte, der von Busch zu Busch hüpfte.) Aber sie
wurden von den Buchstaben magisch angezogen. Warum, fragten sie
sich, sah ein B so aus, wie es aussah? Konnte es vielleicht auch anders aussehen? Gab es eine grundlegende B-heit? Das Ergebnis dieser
Warum-ist-der-Ball-rund-Fragen war eine neue Art Buch – der irische Kodex. Eins nach dem anderen wurden in Irland die spektakulärsten, magischsten Bücher produziert, die die Welt je gesehen hatte. Von Beginn an wurde die Schrift auch unter ihrem schmückenden Aspekt
betrachtet. Es kann nicht anders sein, denn in allen Piktogrammen, Hieroglyphen und Buchstaben findet sich eine bestimmte Ästhetik,
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eine Antwort auf die Frage ›Was sieht am schönsten aus?‹. Die mittel-amerikanische Antwort liegt in verschlungenen, schnörkeligen Stein-metzarbeiten, die chinesische in minimalistischen Pinselstrichen, die altägyptische in majestätischen Bilderrätseln. Selbst die Alphabete, die abstrakten, erstarrten Formen der Kommunikation, drücken eine
Ästhetik aus, die sich mit der Kultur des jeweiligen Benutzers verändert. Wie verschieden ist das gemeißelte, unnachgiebige römische
Alphabet auf den Triumphbogen des Augustus von den eigentümlich
reizlosen romanisch-deutschen Lettern der Gutenbergbibel!
Die Iren verbanden die würdevollen Buchstaben der griechischen
und römischen Alphabete mit der zauberischen Schlichtheit des
Ogham und schufen Initialen und Überschriften, die den Blick des
Lesers auf die Seite bannen und ihn in Atem halten. Im zwölften
Jahrhundert mußte Geraldus Cambrensis einräumen, daß das Book of Kells »das Werk eines Engels, nicht das eines Menschen« sei. Noch heute kann Nicolete Gray in A History of Lettering über die herrliche
»Chi-Rho«-Seite sagen, daß die drei griechischen Zeichen – das Mo-nogramm Christi – »mehr Ausstrahlung haben als Buchstaben.«
Für den Fließtext entwickelten die Iren zwei Schriften. Die eine ist eine würdevolle gerundete Schrift, die Halbunziale heißt, die andere, die sogenannte Irische Minuskel, ist einfach zu schreiben, leichter zu lesen, flüssiger und irgendwie fröhlicher als alles, was die Römer erfunden hatten. Wegen ihrer Leichtigkeit und Leserlichkeit ist diese zweite Schrift von vielen Schreibern weit über die Grenzen Irlands hinaus übernommen worden und entwickelte sich zur allgemein
verbreiteten Schrift des Mittelalters.
Vorbilderfür die Schmuckbuchstaben in den Texten ihrer wertvoll-sten Bücher fanden die Iren nicht in den groben Linien des Ogham, sondern in ihrer eigenen prähistorischen Mathematik und ihren
eigenen ältesten Zeugnissen des menschlichen Geistes – den Megalithen von Boyne Valley. Diese Grabsteine wurden um 3000 v. Chr. in Irland errichtet, ungefähr zur selben Zeit wie Stonehenge in Britannien. Sie sind ebenso geheimnisvoll wie Stonehenge, was ihre Herkunft und die Komplexität ihrer Baukunst angeht. Irlands früheste Architektur ist verziert mit den nicht entschlüsselbaren Spiralen, Zickzack-142
Irische Majuskel oder Halbunziale aus dem Book of Durrow,
siebtes Jahrhundert
Irische Minuskel aus der Priscian-Grammatik von Sankt Gallen (ca. 850) linien und Rauten der frühesten irischen Kunst. Diese massiven
Tumuli erzählen eine Geschichte, über die wir nur spekulieren können.* Irische Schmiede fanden hier ihre künstlerische Inspiration; in den schwungvollen Linien der Boyne-Steine können wir die Quelle
der herrlichen metallenen Schmuckstücke und anderer Objekte er-
kennen, die am Beginn der patricianischen Periode von Schmieden
geschaffen wurden; diese Schmiede hatten in der irischen Gesellschaft den Status von Sehern.
Broschen, Kästen, Scheiben, Schwertscheiden, Schnallen und Pfer-
deschabracken demonstrieren ihre Bewunderung für die
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