Wie die Madonna auf den Mond kam
hinten Fritz Hofmann, der Zigeuner Dimitru und Buba. Im Kofferraum lagen Fritz' Reisegepäck, seine Fotoausrüstung, Petres Karabiner und Dimitrus weiße Kiste mit den Gebeinen seines Vaters Laszlo. Während der Fahrt fiel kein einziges Wort. Anfänglich kam uns bisweilen ein Lastwagen oder ein Dacia entgegen, dann hin und wieder ein Pferdefuhrwerk, die letzte halbe Stunde vor dem Erreichen des Dorfes Riu Vadului jedoch nichts und niemand mehr.
Am Ende des Ortes lagen die Kasernen. Ich parkte vor einer geschlossenen Tordurchfahrt. Ein rostiges Blechschild verriet, dass hinter dem Tor eine neurologische und psychiatrische Heilanstalt lag.
» Wartet einen Moment!« Ich stieg aus, schob das Tor auf und trat ein. Ich sah niemanden, nur gelbe Steinbaracken und eine weitläufige Brachfläche linker Hand. Ein halbes Dutzend Köter knurrte, als sie mich entdeckten. Ich trat trotzdem näher. Dann sah ich die Holzkreuze. Es waren viele Kreuze, manche vorn Gestrüpp überwuchert, manche frisch. Je länger ich schaute, desto mehr Kreuze wurden es. Alle ohne Namen. Ich stand auf einern Friedhof. Der Ort ohne Schatten. Ich flehte zum Himmel, mein Großvater möge hier nicht verscharrt worden sein. Die Hunde zerrten etwas aus der Erde. Sie stritten um den Arm einer Kinderleiche.
Ich ging zurück zum Au to. Fritz und Buba waren ausge stiegen.
»Können wir hinein?«, fragte Buba.
»Ja. Aber nur Fritz und ich. Du nicht, Buba.«
Sie wollte widersprechen, dann blickte sie in mein Gesicht. »Ist es so schlimm?«
»Ja.«
»Ohne Anmeldung kein Eintritt«, bellte ein Pfortenwärter, dem Fritz und ich nicht ansahen, ob er Insasse der Anstalt war oder zum Personal gehörte.
Fritz reichte ihm zehn Dollars.
Der Mann riss die Note an sich und hielt sie gegen das Licht. »Was soll das? Betrüger. Altes Geld!« Er zerfetzte den Geldschein und verlangte: »Richtiges!« Fritz gab ihm etwas einheimische Währung, die der Mann sofort in seine Hosentasche steckte.
»Du kannst rein. Aber der«, er zeigte auf mich, »der da nicht! «
Ich beachtete das Verbot nicht und wollte mich an dem Wärter vorbeidrängen, als plötzlich einige zerlumpte Gestalten aus dem Nichts erschienen. Ich versteinerte. Vor mir stand das Elend. »Bringst du uns Essen? «, fragte einer.
Auf das harsche »Nein« heulte der Mann los wie ein Wolf, dass es mir durch Mark und Bein fuhr.
»Ich komme aus Deutschland«, sagte Fritz ruhig. Sofort verstummte das Geheul. »Ich sorge dafür, dass ihr bald zu essen habt. Genug und für immer. Nicht heute, aber bald. Ich verspreche es.«
»Er ist Deutscher! «, schrie jemand, und alle lärmten durcheinander. »Der Deutsche ist da. Er hat uns nicht vergessen. Er bringt uns zu essen. Der Deutsche vergisst nicht!«
»Aber der da ist kein Deutscher!« Der Wärter mischte sich wieder ein, und als das Gejammer abermals einsetzte, zog ich mich zurück.
»Fritz, ich kann diesen Ort nicht betreten.« »Ist schon okay, Pavel. Ich geb mein Bestes.«
Ich saß wieder im Auto, als Fritz nach einem Ilja Botev aus Baia Luna fragte. Der Wärter verneinte, ebenso wie die Männer, die anscheinend mit Vor- und Nachnamen nichts anzufangen wussten.
»Sie sind wirklich Deutscher?«
Fritz drehte sich um und sah sich einem jungen Mann gegenüber, der sich als Anstaltsleiter Doktor Adrian Bacanu und mit der Bitte vorstellte: »Helfen Sie uns.«
Bacanu erklärte, er habe die Anstalt erst vor zwei Wochen übernommen. Sein Vorgänger Doktor Pauker habe sich zum Militär versetzen lassen. Er selbst habe sich in seinen ärgsten Albträumen nicht ausmalen können, welcher Schrecken ihn in Vadului erwartete.
»Ich will Arzt sein und kein Totengräber«, sagte Bacanu, und Fritz sah ihm an, dass er die Wahrheit sprach. Als Fritz sich als Pressefotograf vorstellte, fiel ihm Bacanu fast um den Hals. »Fotografieren Sie diese armen Menschen hier. Bitte! Zeigen Sie in Deutschland, welches Elend hier herrscht.«
»Nein! Ich möchte nicht fotografieren. Aber ich gebe Ihnen mein Wort, in spätestens drei Tagen sind meine Kollegen aus der Hauptstadt hier oben.«
»Drei Tage! Die halten wir aus.«
Als Fritz Hofmann Adrian Bacanus stille Freude gewahrte, wusste er, dass er in seinem Leben nicht mehr auf den Auslöser einer Kamera drücken würde. Dann erklärte er, der von ihm gesuchte Ilja Botev müsse, wenn er überhaupt noch am Leben sei, schon sehr alt sein. Weit über achtzig und möglicherweise schon seit über zwanzig Jahren in der Anstalt
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