Wie halte ich das nur alles aus?: Fragen Sie Frau Sibylle (German Edition)
Rüdiger hustet. Er lebt. Er ist Ingenieur. Will sich umorientieren. Schnupperkurs in der KFZ -Branche. Himmel, ist das alles ein Elend! Die Frau torkelt ins Bad, das Grauen. Zehn Kilo mehr, und alle im Gesicht. Aus dem Hals könnte man zehn Hälse für Afrika machen. Überall diese Pizzaschachteln, Truthahnüberreste in der Küche. Schokolade klebt am Sofa. Das hatten sie jetzt vierzehn Tage nicht verlassen. Aber wo sollen Leute wie sie denn Weihnachten auch hingehen, in Berlin? Alle sind zu Hause in Schwäbisch Gmünd; die Weltstadt ist geschlossen. Bleich sinkt sie aufs Bett. Sie muss einen Vorsatz fassen. Viele Vorsätze, für das neue Jahr, das von draußen träge in die Wohnung schaut und mit dem Paar eigentlich nichts weiter zu tun haben will.
»Ich muss Sport machen«, sagt Rüdiger. »Weniger essen, begeisterungsfähiger werden. Neugierig sein wie ein junger Luchs und in die Rückversicherungsagentur federn, dort dem Chef mal so richtig sagen …«
Ja, was denn nur? Weniger trinken. Aber wer soll denn zehn Grad minus und einen bleigrauen Himmel ertragen ohne einen gepflegten Rausch? Vorsätze. Die Hoffnung der Müden, der Zahnradteilchen des Kapitalismus, der Basis des Staates, dass sich das Schicksal zum Guten wendet. Vorsätze, ein Pakt mit dem Universum: Ich werde abnehmen, mich disziplinieren, ich werde den Ironman mitmachen, und dann musst du, Schicksal, mich belohnen. Mit einem Leben, das sich nicht anfühlt wie Tütensuppe. Ein kleiner Deal, komm schon. Aber da kommt keiner. Da ist keiner zu Hause im Himmel, das war ein Märchen. Der Gott, das Schicksal, das Karma – alles ein Märchen. Und es wird alles genauso weitergehen.
»Endlich eine Sprache lernen«, schreibt sie auf die Liste. Und dann schläft sie ein.
»Frohes neues Jahr«, murmelt das neue Jahr angeekelt durchs Fenster.
Wenn die Welt untergeht,
gilt das auch für die Schweiz?
Ein reizender Tag im reizendsten Land der Welt. Überangepasst wollte ich mit einer sehr steilen, kleinen Bahn auf einen Berg fahren, was die Schweizer sehr gerne machen: Auf ihre eigenen Berge fahren und runterschauen. Die Standseilbahn war überfüllt, schob sich bergan, aber auf halber Strecke, mit einem Geräusch, das nach Zahnarzt und Kieferbruch mittels Kieferbruchzange klang, blieb sie hängen. Wenig elegant federte die kleine Bahn nach. Das Gleis sehr steil, die Welt sehr weit unten. In der Bahn war – fast nichts zu hören. Die Menschen redeten leise, weil, wie ich später herausfand, Schweizer meist leise sprechen. Zehn Minuten vergingen, in denen für mich, aus dem Land der lauten Stimmen kommend, befremdliche Ruhe herrschte. Keiner schien nervös, wurde hysterisch oder regte sich über »Die da oben« auf. Erstaunt beobachtete ich die mir fremde Rasse. Irgendwann sagte ein Herr: »Jo, ich lueg emol, ob öpper ans Telefon goht.«
Beistimmendes Murmeln.
Eine Mutter erklärte ihrem Kind: »Wenn’s Seili risst, den fahrt’s Bähnli ganz schnäll abe.«
»Und dann?« wollte das Kind wissen.
»Dann detschts«, sagte Mama, und damit war das Thema besprochen.
Der Herr hatte unterdes einen beeindruckenden Dialog am Telefon: »Excuse, mir händ do äs chlises Problem. S’Bähnli bewegt sich nid.«
Aus dem Lautsprecher tönte eine langsame Stimme: »Jo, denn müend Sie sich jetzt ganz ruhig hebä.«
Nach einer weiteren Viertelstunde ruckelte die Bahn und wurde zur Endstation gekurbelt – vermutlich von Schweizerhand. Die Türen wurden aufgestemmt, die Fahrgäste bedankten sich und gingen ihrer Wege.
Dieses für mich erstaunliche Ereignis wurde, auch wenn ich es erst Jahre später zu verstehen wusste, der Schlüssel zum Verständnis des Landes: Gibt es etwas wie den Charakter eines Volkes, so ist es beim Schweizer die größtmögliche Abwesenheit von Angst, die ihn definiert. Außer der Sorge, anderen auf die Nerven zu gehen, fürchtet er sich einfach weniger als andere Menschen. Beides ist erklärbar. Das eine mit nicht stattgefundenen Kriegen in den letzten Generationen; das andere mit der nicht vorhandenen Größe des Landes, da man davon ausgehen muss, jeden mindestens zweimal in seinem Leben zu treffen. Die Abwesenheit von Angst klingt im ersten Moment wie eine Nebensächlichkeit, doch betrachtet man den Umstand genauer, erkennt man, dass der Charakter des Landes wesentlich davon geprägt wird. Man hat hier weder Angst, freundlich zu sein, noch sein Gesicht zu verlieren. Man fürchtet sich nur unwesentlich vor Verarmung oder davor, etwas zu
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