Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam
ich jedes Teil meines Gepäcks abgewogen, jedes mögliche Gramm gespart habe, damit der Rucksack nicht mehr als 7 Kilo wiegt — natürlich darf Oinki mit.
Doch jetzt müssen wir zum Zug. „Kinder, geht bitte nach Haus, ich möchte mich nicht auf dem Bahnhof verabschieden.“ „Tschüs, Mama, komm heil wieder. Pass auf dich auf. Sei vorsichtig. Fahr lieber mit einem Bus, bevor du dich überanstrengst. Aufgeben ist nicht schlimm. Ruf mindestens einmal in der Woche an. Mach dir um uns keine Sorgen. Kümmere dich nur um dich. Vertragt euch gut.“ Welch herzlicher Abschied! „Adieu, ihr Lieben, danke für die guten Ratschläge, aber jetzt geht, auch ihr Letzten, unser Zug wartet.“ Schnell noch ein paar Küsse und Umarmungen — doch warum hat Max Tränen in den Augen? „Sei bitte nicht traurig.“ Er drückt mich an sich: „Ich bin nicht traurig, ich freue mich nur so für Dich.“ Was für ein Schatz! Er lässt mich ziehen, obwohl mein Entschluss für ihn ein Schock war, und freut sich sogar für mich! Aber als wir uns ansehen, ist klar, dass wir beide Angst haben. Was wird die lange Trennung mit uns machen? Wir ahnen, dass ich nicht so wiederkommen werde, wie ich jetzt bin. Hoffentlich! Schon lange bin ich unzufrieden und krank und wünsche mir Veränderung. Darum fällt mir der Abschied leicht. Ich bin zwar nervös, aber fühle mich auch mutig — und ziemlich neben der Spur.
Maja und ich quetschen uns in unser Liegewagenabteil und wissen nicht wohin mit den Rucksäcken. Sie müssen dicht bei uns bleiben, denn von jetzt an sind sie alles, was wir haben. Doch irgendwann haben wir uns eingerichtet und lassen uns vom Rattern der Räder einschläfern.
Während ich durch Frankreich rollend meinen Morgenkaffee trinke, den der nette Schlafwagenschaffner gekocht hat, überschlagen sich in meinem Kopf Gedanken und Phantasien. Heute Nachmittag werden wir in Südfrankreich sein. Und dann? Dann will ich 800 Kilometer zu Fuß nach Santiago de Compostela gehen, durch ganz Nordspanien, wie Millionen Menschen vor mir. Zum Grab des Heiligen Jakobus, einem Jünger Jesu, von dem niemand weiß, ob er wirklich in Spanien missioniert hat und ob seine Gebeine nach seinem Märtyrertod in Jerusalem tatsächlich auf wundersame Weise nach Westspanien gelangt sind. Angeblich sind sie dort im neunten Jahrhundert in einer römischen Nekropole entdeckt worden. Aber lebte dieser Einsiedler Pelagius überhaupt, von dem die Legende erzählt, dass er der Erste war, den geheimnisvolle Lichtzeichen zur vergessenen Ruhestätte leiteten? Immerhin ist die Existenz von Bischof Theodemir von Iria durch seinen Grabstein aus dem Jahr 847 erwiesen, er ließ das Grab freilegen. König Alfons II. von Asturien errichtete darüber die erste Jakobuskapelle. Der Ort erhielt den Namen ,Sternenfeld’ = ,Campus Stella’. Doch ob Legende oder Wahrheit: Seit über tausend Jahren pilgern Menschen in der Hoffnung auf Wunder oder Heilung, Vergebung ihrer Sünden oder schlicht aus Liebe zu Gott zu diesem Grab.
Solche Motive scheinen nicht mehr zeitgemäß, doch dem Weg nach Santiago de Compostela wird auch heute noch eine ganz besondere Kraft zugesprochen: Ist er die Spiegelung der himmlischen Milchstraße mit ihrer überirdischen Energie, wie manche meinen? Oder folgt er den Kraftlinien der Erde, wie andere sagen? Ist die ostwestliche Ausrichtung eine Wiederholung unserer Lebenswege, vom Morgen zum Abend, von der Geburt zum Tod? Mag sein, dass es so ist; ich weiß nicht, ob ich daran glaube, doch bin mir sicher, dass mich in den nächsten Wochen ungeahnte Abenteuer erwarten.
Das erste ist unser Umsteigen in Paris. Majas Tochter hat uns genaue Pläne dafür mitgegeben, doch wir machen uns schon eine Stunde vorher gegenseitig verrückt: „Was ist, wenn unser Zug Verspätung hat?“ „Werden wir auch wirklich den anderen Bahnhof finden?“ Es ist unglaublich, dass wir zwei gestandenen Frauen uns vor ganz Alltäglichem fürchten. Bin ich wirklich so? Natürlich gibt es überhaupt keine Probleme. Wir brauchen nur einen Fahrkartenautomaten zu begreifen, eine Schranke zu passieren, ein paar Minuten mit der Metro zu fahren und unseren Fußweg am Umsteigebahnhof zu finden. Da betrete ich das erste Mal nach 28 Jahren wieder eine Pariser Straße, atme Pariser Luft und schwelge in Erinnerungen. Schade, dass der nächste Zug schon wartet. Endlos lang ist er und bequem, rast mit uns nach Süden, durchquert in wenigen Stunden das Land und bringt uns nach Bayonne, dem
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