Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)
jeglicher Regulation oder Kontrolle des Tuns profitorientierter Unternehmen die pathologische Degeneration des Laisser-faire-Prinzips in ökonomische Realität zu überführen. Ein solcher Versuch, die menschliche Gesellschaft dem Markt auszuliefern – einem Markt, der (vermeintlich) sich selbst steuert, dabei Wohlstand oder gar Wohlfahrt maximiert und bevölkert ist von rational ihre Interessen verfolgenden Akteuren –, ist in der bisherigen Geschichte kapitalistischer Entwicklung in entwickelten Ökonomien beispiellos, selbst in den USA. Er führt ad absurdum , was seine Ideologen in Adam Smith hineininterpretieren, und entspricht in seinem Extremismus der zu 100 Prozent einer staatlichen Planung unterworfenen Befehlswirtschaft der UdSSR, wie sie die Bolschewiki in Marx hineindeuteten. Es überrascht nicht, dass diese »Marktfundamentalisten«, in ihren Positionen der Theologie näher als der ökonomischen Wirklichkeit, ebenfalls scheiterten.
Das Verschwinden der staatlichen Zentralplanwirtschaften und das faktische Verschwinden des Ziels, die Gesellschaft grundlegend zu verändern, aus den Bestrebungen demoralisierter sozialdemokratischer Parteien haben dem Großteil der im 20. Jahrhundert geführten Sozialismusdebatten ein Ende bereitet. Diese Debatten wiesen eine gewisse Distanz zu Karl Marx’ eigenem Denken auf, auch wenn sie größtenteils Anregungen von ihm bezogen und sich auf ihn beriefen. Zugleich blieb Marx in zumindest dreierlei Hinsicht von enormem Einfluss: als Theoretiker der politischen Ökonomie, als Theoretiker und Interpret der Geschichte und als anerkannter Mitbegründer (neben Émile Durkheim und Max Weber) der neuzeitlichen Gesellschaftstheorie. Über seine anhaltende – und zweifellos beträchtliche – Bedeutung als Philosoph kann ich nicht kompetent urteilen. Was aber mit Sicherheit seine Relevanz für die Gegenwart niemals verlor, ist Marx’ Sicht des Kapitalismus als einer historisch befristeten Art menschlichen Wirtschaftens sowie seine Analyse des kapitalistischen modus operandi , der von ständiger Ausdehnung und Konzentration, Krisenhaftigkeit und Selbsttransformation geprägt ist.
II
Welche Relevanz besitzt Marx im 21. Jahrhundert? Das sowjetische Modell des Sozialismus – der einzige bislang unternommene Versuch, eine sozialistische Ökonomie aufzubauen – existiert nicht mehr. Zugleich entwickelte sich eine enorme und immer schneller fortschreitende Dynamik der Globalisierung, und auch die schieren Möglichkeiten der Menschen, Reichtum hervorzubringen, potenzierten sich. Das verringerte die Wirksamkeit und Reichweite nationalstaatlichen ökonomischen und sozialen Handelns, betraf also klassische Felder sozialdemokratischer Politik, die in erster Linie auf Reformen innerhalb des Nationalstaats setzte. Verstärkt durch die Vormachtstellung des Marktfundamentalismus, entwickelten sich so in vielen Ländern und auch zwischen einzelnen Regionen Verhältnisse extremer ökonomischer Ungleichheiten. Im grundlegenden zyklischen Rhythmus der kapitalistischen Ökonomie kehrte damit ein katastrophisches Moment wieder, sichtbar nicht zuletzt in der schwersten globalen Krise seit den 1930er Jahren.
Die Entwicklung des produktiven Vermögens der Menschheit würde es – zumindest potentiell – ermöglichen, aus dem Reich der Notwendigkeit herauszutreten ins Reich des Überflusses, allseitiger Entwicklung und ungeahnter Wahlmöglichkeiten; gleichwohl ist dieser Schritt der Weltbevölkerung in ihrer Mehrheit weiterhin versperrt. Den Großteil des 20. Jahrhunderts freilich verblieben sozialistische Bewegungen und Regime in ihrem Handeln im Wesentlichen weiterhin innerhalb des Reichs der Notwendigkeit, auch in den reichen Ländern des Westens, wo sich in den zwei Jahrzehnten nach 1945 Wohlstandsgesellschaften herausbildeten. Im Reich des Überflusses nun sind Ziele wie angemessene Ernährung, Kleidung und Wohnung, Arbeitsplätze, die ein Einkommen garantieren, und sozialstaatliche Strukturen, die den Menschen Schutz vor den Fährnissen des Lebens bieten, zwar notwendige, doch keineswegs ausreichende Elemente eines sozialistischen Programms.
Eine dritte Entwicklung erweist sich als negativ. Da die atemberaubende Expansion der Weltwirtschaft zunehmend die Umwelt in Mitleidenschaft zieht, zeigt sich immer dringlicher die Notwendigkeit, das unbegrenzte Wirtschaftswachstum zu kontrollieren. Zwischen dem Gebot, den verheerenden Auswirkungen der Ökonomie auf die Biosphäre etwas entgegenzusetzen
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