Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)

Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)

Titel: Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Hobsbawm
Vom Netzwerk:
oder sie zumindest zu kontrollieren, und den Imperativen des kapitalistischen Marktes, der um des Profits willen auf ein größtmögliches, anhaltendes Wachstum zielt, tut sich ein offenkundiger Konflikt auf. Hier ist die Achillesferse des Kapitalismus; gegenwärtig lässt sich noch nicht sagen, von wem der tödliche Pfeil kommen wird.
    Wie sehen wir also Karl Marx heute? Als einen Denker der ganzen Menschheit, nicht nur eines Teils von ihr? Gewiss. Als Philosophen? Als Theoretiker der politischen Ökonomie? Als Begründer der modernen Gesellschaftswissenschaft und Führer zum Verständnis der Menschheitsgeschichte? Nun, der entscheidende Punkt, den Jacques Attali zu Recht hervorgehoben hat, ist der Universalismus des Denkens von Marx. Das ist keine »Interdisziplinarität« im konventionellen Sinn, sondern sein Denken integriert alle Disziplinen. Wie Attali schreibt: »Philosophen vor ihm dachten die Menschheit in ihrer Totalität, doch er war der erste, der die Welt als ein Ganzes begriff, das zugleich politisch, ökonomisch, wissenschaftlich und philosophisch ist.«
    Manches von dem, was Marx schrieb, ist zweifellos veraltet, und anderes erscheint heute nicht mehr tragfähig. Seine Schriften bilden offenkundig kein abgeschlossenes Korpus, sondern sind – wie jedes Denken, das den Namen verdient – works in progress , ständiger Veränderung unterworfen. Niemand hat heute noch ein Interesse, sie in ein Dogma zu verwandeln, geschweige denn in eine institutionell verankerte Orthodoxie. Marx selbst hätte das sicherlich erschreckt. Ebenso ist indes die Vorstellung zu verwerfen, zwischen einem »wahren« und einem »falschen« Marxismus lasse sich trennscharf unterscheiden. Die Untersuchungsweise konnte unterschiedliche Ergebnisse und politische Perspektiven hervorbringen. Tatsächlich trifft das bereits für Marx selbst zu, der einen friedlichen Machtwechsel in Britannien und den Niederlanden ebenso für vorstellbar hielt wie die Entwicklung des Sozialismus aus der russischen Dorfgemeinschaft. Kautsky und auch Bernstein waren genauso sehr (oder, wenn man will, genauso wenig) Marx’ Erben wie Plechanow und Lenin. Aus diesem Grund bin ich skeptisch, was Attalis Unterscheidung zwischen dem wahren Marx und der Riege späterer Vereinfacher oder Verfälscher seines Denkens anbelangt – Engels, Kautsky, Lenin. Wenn die Russen, als erste aufmerksame Leser des Kapitals , darin eine Theorie sahen, die Ländern wie dem ihren einen Weg weisen konnte, durch eine ökonomische Entwicklung nach westlichem Vorbild aus der Rückständigkeit in die Moderne fortzuschreiten, so war das ebenso legitim wie Marx’ eigenes Nachsinnen darüber, ob der Übergang zum Sozialismus nicht auf der Grundlage der russischen Dorfgemeinschaft erfolgen könne. Vermutlich deckte sich Ersteres womöglich sogar eher mit einer Grundtendenz des Marx’schen Denkens. Gegen das sowjetische Experiment spräche demnach nicht, dass der Sozialismus erst aufzubauen wäre, nachdem die ganze Welt kapitalistisch geworden ist – weder vertrat Marx eine solche Position, noch ließe sich ernsthaft behaupten, er hätte ihr zugestimmt. Das Problem war empirisch: Russland war zu rückständig, als dass es etwas anderes hätte hervorbringen können als die Karikatur einer sozialistischen Gesellschaft – ein »chinesisches Reich in Rot«, wie Plechanow gewarnt hat. 1917 hätten Marxisten in ihrer überwältigenden Mehrheit dem zugestimmt, einschließlich der meisten russischen Marxisten. Empirische Argumente sprachen indes auch gegen die Position der sogenannten Legalen Marxisten der 1890er Jahre, die – wie Attali – die Auffassung vertraten, dass die Hauptaufgabe von Marxisten darin bestehe, die Entwicklung des aufblühenden Industriekapitalismus in Russland zu unterstützen: Unter dem Zarismus wäre wohl kaum ein liberales, kapitalistisches Russland entstanden.
    Und dennoch behält eine Reihe zentraler Momente von Marx’ Analyse ihre Gültigkeit und Relevanz. An erster Stelle ist es die Einsicht in die unaufhaltsame globale Dynamik der kapitalistischen ökonomischen Entwicklung, ihre Fähigkeit, alles zu zerstören, was sie vorfindet, eine Zerstörung, die auch vor jenen ererbten Elementen der Menschheitsvergangenheit nicht haltmacht, aus denen der Kapitalismus selbst einst Nutzen zog, etwa Familienstrukturen. Zweitens ist die Analyse der Funktionsweise des kapitalistischen Wachstums zu nennen, das darauf beruht, innere »Widersprüche« hervorzubringen, endlose

Weitere Kostenlose Bücher