Wie man einen verdamt guten Roman schreibt (Teil 2)
Leser nicht gefühlsmäßig an der Geschichte beteiligt. Nachdem Sie Sympathie erzeugt haben, müssen Sie den Leser noch tiefer in den fiktiven Traum ziehen, indem Sie ihn dazu bringen, sich mit der Figur zu identifizieren.
IDENTIFIKATION
Identifikation wird häufig mit Sympathie verwechselt. Sympathie wird erzielt, wenn der Leser Mitleid angesichts der Notlage einer Figur hat. Doch ein Leser kann auch Mitleid mit einem abscheulichen Schurken haben, der gehängt werden soll, ohne sich mit ihm zu identifizieren. Identifikation tritt ein, wenn der Leser nicht nur Mitleid angesichts der Notlage der Figur hat, sondern auch deren Hoffnungen und Ziele unterstützt und sich ganz stark wünscht, daß die Figur diese auch erreicht.
• In Der weiße Hai unterstützt der Leser Brodys Ziel, den Hai zu vernichten.
• In Carrie unterstützt der Leser Carries Verlangen, entgegen dem Wunsch ihrer tyrannischen Mutter zum Schulball zu gehen.
• In Stolz und Vorurteil unterstützt der Leser Elizabeths Sehnsucht, sich zu verliehen und zu heiraten.
• Im Prozeß unterstützt der Leser K.‘s Entschlossenheit, sich aus den Klauen des Gesetzes zu befreien.
• In Verbrechen und Strafe unterstützt der Leser Raskolnikows Verlangen, der Armut zu entkommen.
• In Das rote Tapferkeitsabzeichen unterstützt der Leser Henrys Bedürfnis, sich zu beweisen, daß er kein Feigling ist.
• In Vom Winde verweht unterstützt der Leser Scarletts dringenden Wunsch, ihre Plantage wiederaufzubauen, nachdem sie von den Yankees zerstört wurde.
Schön und gut, werden Sie sagen, aber was macht man, wenn man über einen abscheulichen Schurken schreibt? Wie bringt man den Leser dazu, sich mit so einem zu identifizieren? Ganz einfach.
Mal angenommen Sie haben eine Figur, die im Gefängnis sitzt. Der Mann wird furchtbar behandelt, von den Wärtern geschlagen, von den Mitgefangenen verprügelt, von der Familie im Stich gelassen. Selbst wenn er eindeutig schuldig ist, wird der Leser Mitleid mit ihm haben, damit haben Sie die Sympathie des Lesers gewonnen. Aber wird der Leser sich auch mit ihm identifizieren?
Nehmen wir einmal an, sein Ziel ist es, aus dem Gefängnis auszubrechen. Der Leser wird sich nicht unbedingt mit diesem Ziel identifizieren, wenn zum Beispiel der Gefangene ein brutaler Mörder ist. Ein Leser, der will, daß er ihm Gefängnis bleibt, wird sich eher mit den Anklägern, den Richtern, Geschworenen und Wärtern identifizieren, die wollen, daß er bleibt, wo er ist. Es ist jedoch trotzdem möglich, daß der Leser sich mit dem Ziel des Gefangenen identifiziert, wenn dieser zum Beispiel den Wunsch hat, sich zu bessern und das, was er getan hat, wieder gut zu machen. Geben Sie Ihrer Figur ein edles Ziel, und der Leser wird auf ihrer Seite stehen, egal was für ein verabscheuungswürdiger Schurke sie auch früher gewesen ist.
Mario Puzo hatte ein solches Problem, als er den Paten schrieb. Sein Protagonist Don Corleone hat sein Vermögen durch Zinswucher, Erpressen von Schutzgeldern und Korrumpieren der Gewerkschaften verdient. Wohl kaum jemand, den man zum Kartenspielen einladen würde. Um im Geschäft zu bleiben, hat Don Corleone Politiker bestochen, Journalisten gekauft, italienische Lebensmittelhändler gezwungen, ausschließlich Genco- Pura-Olivenöl zu verkaufen und überhaupt Angebote gemacht, die niemand ablehnen konnte. Machen wir uns doch nichts vor, Don Corleone ist ein verabscheuungswürdiger Schurke ersten Ranges. Gewiß keine Figur, für die der Leser normalerweise Sympathie hätte oder mit der er sich identifizieren würde. Dennoch wollte Puzo genau das erreichen, und es ist ihm auch gelungen. Millionen von Menschen, die das Buch gelesen, und noch weitere Millionen, die den Film gesehen haben, hatten Sympathie für Don Corleone und haben sich mit ihm
identifiziert. Wie hat Mario Puzo dieses Wunder zustande gebracht? Mit einem genialen Einfall, indem er nämlich Sympathie für eine Figur erzeugt, die Ungerechtigkeit erfahren hat und Don Corleone mit einem edlen Ziel verknüpft.
Mario Puzo fängt seine Geschichte nicht damit an, wie Don Corleone irgendeinem armen Schwein die Füße einzementiert, was ihm die Verachtung des Lesers eingebracht hätte. Statt dessen beginnt er mit einem hart arbeitenden Bestattungsunternehmer namens Amerigo Bonasera, der in einem amerikanischen Gerichtssaal sitzt und »auf sein Recht wartete; auf die Bestrafung jener Männer, die seine Tochter so brutal mißhandelt hatten, die versucht
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