Wie man im digitalen Zeitalter richtig aufblueht
einfachsten Lebensumständen und Bedürfnissen problemlos anpassen; daher ist sie in diesen Ländern bestens für ihren Zweck geeignet. Es ist das vollkommene Gegenteil des Luxus, der Maßlosigkeit und der Entfremdung, die man allzu oft mit den gesellschaftspolitischen Auswirkungen der neuen Technologien in der westlichen Welt assoziiert – ein Phänomen, das nicht von oben aufgezwungen wurde, sondern tief in der Gesellschaft wurzelt und deshalb umso dynamischer ist.
Bei der Zerschlagung etablierter Vorstellungen davon, was politisch ist und was nicht, spielt Technologie weltweit eine zunehmend zentrale Rolle. Deshalb ist es keinesfalls naiv zu hoffen, dass neben neuen Formen der Vernetzung und der Identität auch neue Formen politischer Partizipation und Integration entstehen könnten. In den offenen Strukturen, auf die sich große Teile dieser Technologie stützen, liegt obendrein ein junges, einzigartiges Vermächtnis, das es weiterzuentwickeln und zu vererben gilt.
Ganz ähnlich wie die traditionelle politische Bühne sind auch die digitalen Räume, in denen neue Formen politischer und sozialer Verträge geschlossen werden, ständig durch Konflikte, Verhandlungen und Kompromisse belastet. Um gemeinsam zu profitieren, müssen wir bereit sein, innerhalb dieser Räume für unsere Freiheit einzutreten – für die Freiheit, die eigene Meinung zu äußern und zu protestieren; für gleiche und offene Zugangsmöglichkeiten; für die Privatsphäre und den Schutz von Informationen.
In all diesen Bereichen besteht ein dringender Gesetzgebungs- und Regulierungsbedarf. Letztlich jedoch sind die Kräfte, die unsere politische Zukunft formen, gleichzeitig fließend und höchst dezentral: Wie nie zuvor sind sie auf sich überschneidende Gruppierungen, Bewegungen und Interessen verteilt. Einzelne, zentralisierte Lösungen werden uns nicht retten oder schützen können. Man kann gute neue Geschäfte abschließen und bereits ausgereifte Formen der Inklusivität erforschen – aber nur, wenn alle Beteiligten genügend Wissen, Ehrgeiz und gegenseitiges Vertrauen in die menschliche Handlungsfähigkeit aufbringen.
5 The Net Delusion , Evgeny Morozov (Perseus Books / Penguin / Brockman 2011).
6 The Master Switch , Tim Wu (Random House US / Atlantic Books / Janklow and Nesbit 2009).
Schluss
Ich habe in diesem Buch acht miteinander verwobene Argumentationsstränge verfolgt und, ausgehend von der individuellen Erfahrung von Zeit, Aufmerksamkeit und Vernetzung, dabei die größeren äußeren Strukturen betrachtet: die kulturellen, politischen und ethischen Fragen, die durch die digitale Technologie aufgeworfen werden. Daneben habe ich versucht, Anleitungen zu geben, wie man von diesen neuen Gegebenheiten profitieren kann.
Ich bin davon überzeugt, dass wir für ein Verständnis der Gegenwart zuallererst das Wesen unserer Erlebnisse und Erfahrungen betrachten müssen und nicht die Werkzeuge, die sie uns ermöglichen. Wir müssen die besten dieser Erlebnisse wertschätzen, in unserem Leben aber auch einen technologiefreien Raum schaffen und unsere Aufmerksamkeit und unsere Zeit sorgsam einteilen, statt Geräten zu gestatten, unseren Tagesablauf zu diktieren. Das bedeutet, innerhalb unserer Denk- und Handlungsgewohnheiten eine Balance zu finden – und darauf zu vertrauen, dass es möglich ist, anders zu denken und sich gegen den Druck ständiger Erreichbarkeit zu wehren.
Daneben müssen wir auch etwas von der Geschichte der von uns genutzten digitalen »Tools« und Dienste begreifen und sie wie andere menschliche Werke kritisch betrachten, statt sie einfach wie eine Landschaft unkritisch zu besiedeln. Es genügt nicht, sich mitzuteilen und zu vernetzen – man muss es richtig machen und in digitalen Räumen eine Integrität zeigen, die auch andere zu integrem Verhalten anregt. Zudem müssen wir mehr denn je versuchen, Zeit und Methoden zu finden, um ganz wir selbst zu sein; nur so können wir den Reichtum aktueller und überlieferter Kultur ausschöpfen und dem Druck entweichen, den empfangenes Wissen und Gruppenresonanz auf uns ausüben.
Die digitalen Werkzeuge, über die wir verfügen, lassen bestimmte Handlungen leicht und folgenlos erscheinen. Es ist einfacher denn je, andere – oder zumindest ihre digitalen Verkörperungen – zu benutzen und zu missbrauchen; Vorurteile und Unwahrheiten zu verbreiten; in sämtlichen Bereichen von der Sexualität über die Arbeit bis zur Kreativität nur noch reflexiv zu existieren.
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