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Wie man im digitalen Zeitalter richtig aufblueht

Wie man im digitalen Zeitalter richtig aufblueht

Titel: Wie man im digitalen Zeitalter richtig aufblueht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Chatfield
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aufregenden Einzelheiten unmittelbar ›abgebildet‹ … Der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt. Der Blick in die Zukunft gibt nun Raum zur vergnüglichen, anregenden und praktisch unbeschränkten Spekulation.«
    Weniger als ein Jahrhundert später lässt sich mit Bestimmtheit sagen, dass selbst die wildesten Spekulationen dieser Art weit übertroffen worden sind. Zwischenzeitlich verfügen mehr als zwei Milliarden Menschen über einen Internetzugang, und mehr als doppelt so viele können durch Mobiltelefone miteinander in Kontakt treten. Die Zuschauerzahlen bei Nachrichten- und Sportsendungen gehen regelmäßig in die Hunderte von Millionen. Mehr als die Hälfte aller heute lebenden Menschen sind beinahe ununterbrochen über irgendeine digitale Verbindung weltweit erreichbar.
    Solche Zahlen sind natürlich atemberaubend. Vergleichsweise unbemerkt haben wir in der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts jedoch begonnen, eine weitere mediale Wasserscheide zu durchschreiten: Dies hat nichts mit nackten Zahlen zu tun, sondern mit der Zeit selbst.
    Einer von der Kaiser Family Foundation mit über 2000 Probanden durchgeführten Studie zufolge betrug die Dauer der Mediennutzung bei Amerikanern von acht bis achtzehn Jahren 1999 zwischen zwanzig Minuten und sechs Stunden täglich. Der Tagesablauf der Jugendlichen sei, so hieß es, medial fast »saturiert« – diejenigen, die die Ergebnisse der Studie auswerteten, sahen also kaum noch Raum für eine weitergehende Mediennutzung.
    Es hatte den Anschein, als steuerte die Menschheit auf eine Höchstmenge an Medieninhalten zu, die sie innerhalb ihrer täglichen Wachphasen konsumieren konnte – eine Schlussfolgerung, die 2004 bei einer Wiederholung der Studie in derselben Altersgruppe bestätigt wurde: Der tägliche Medienkonsum hatte sich um nur zwei Minuten erhöht.
    Im Jahre 2009 führte die Stiftung dieselbe Studie aber noch einmal durch und stellte zur großen Überraschung aller fest, dass die gesamte tägliche Mediennutzung der Acht- bis Achtzehnjährigen um über 20 Prozent zugenommen hatte und nun fast sieben Stunden und 40 Minuten betrug. Wenn man den Gebrauch mehrerer Geräte einrechnete, betrug die Gesamtdauer sogar rund zehn Stunden und 45 Minuten täglich.
    Es war ein verblüffendes Ergebnis. Ausgehend davon, dass junge Menschen zwischen acht und neun Stunden Schlaf pro Nacht benötigen, nahm die Mediennutzung nun mehr als die Hälfte ihrer täglichen Wachphase ein – nicht eingerechnet die in der Schule verwendeten Medien, die nicht zu Freizeitzwecken dienten.
    Wie seit einem halben Jahrhundert nahm das Fernsehen mit über drei Stunden und 40 Minuten dabei immer noch den ersten Rang ein. Die weitaus wichtigste jüngere Entwicklung jedoch war die Nutzung von Geräten wie iPhones, mit denen alte wie neue Medien gleichermaßen konsumiert wurden: Die Jugendlichen schauten sich im Schulbus online Fernsehsendungen an; sie verschickten SMS, surften bei Facebook vorbei, checkten ihre E-Mails und hörten dazu etwas Musik.
    Innerhalb von nur einem halben Jahrzehnt waren die Medien vom Freizeitvergnügen für zu Hause zu etwas viel Wichtigerem geworden: Sie hatten in sämtliche Abläufe und Aktivitäten des Alltags Einzug gehalten und waren dort vollständig integriert worden. Wie ein ähnlicher Medienreport der Londoner Initiative POLIS im November 2010 schloss, sind die meisten jungen Leute in der zivilisierten Welt heute niemals ohne Zugriffsmöglichkeit auf die vielfältigen Medienangebote, die ihnen Geräte wie Smartphones und Tablets liefern. Ein tragbarer, persönlicher Pool aus Songs, Videos, Spielen, Anwendungen und Diensten sozialer Netzwerke steht permanent zur Verfügung.
    Die Verhaltensmuster ändern sich mit einer Geschwindigkeit, wie sie nicht einmal beim Aufkommen des Rundfunks in den zwanziger Jahren oder nach der Einführung des Fernsehens in den Fünfzigern zu beobachten war. Die wichtigste Entwicklung aber zeichnet sich nach meinem Dafürhalten bei anderen Mustern und Normen ab: Nicht nur unsere Gewohnheiten verändern sich, sondern auch der Begriff unseres allgemeinen »Wachzustandes«.
    Zum ersten Mal in der Geschichte lässt sich heute sagen, dass der Wachzustand vieler Menschen beinhaltet, mit mindestens einem personalisierten Medium »verbunden« zu sein. Wurde die Direktübertragung des Boxkampfes weniger als ein Jahrhundert zuvor noch als ein kleines Wunder betrachtet, so ist es für uns heute selbstverständlich, dass wir tagtäglich über eine

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