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Wie man im digitalen Zeitalter richtig aufblueht

Wie man im digitalen Zeitalter richtig aufblueht

Titel: Wie man im digitalen Zeitalter richtig aufblueht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Chatfield
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Umblättern. In jedem Fall liegt die Signifikanz der Erfahrung woanders.
    Wenn ich ein Buch lese und weiß, was und wie lange ich lese, sagt das eine Menge über das Wesen meines Leseerlebnisses aus. Obwohl ich selbst herausfinden muss, was mir ein Buch bedeutet, lese ich doch dasselbe Buch wie alle anderen, und wahrscheinlich auch auf dieselbe Weise, nämlich von Anfang bis Ende. Dabei erzeuge ich nicht einfach ein vollkommen neues Buch mit einer Reihenfolge, die mir gerade passt – das aber ist genau das, was geschieht, wenn ich einen Dienst wie Facebook in Anspruch nehme.
    Wenn ich Facebook nutze, bin ich zudem nicht allein. Ich betrete eine Art öffentlichen Raum, in dem ich von Minute zu Minute auf die Menschen und Objekte reagiere, die ich um mich herum vorfinde. Vielleicht aktualisiere ich meinen Status, folge den Links einiger Freunde, nehme an einer Diskussion über ein Buch oder einen Film teil oder erörtere die Vorzüge eines Kneipen- oder Restaurantbesuchs. Höchstwahrscheinlich folge ich noch Dutzenden anderer Links und stöbere ein wenig herum, browse durch eine Handvoll Seiten, checke meine E-Mails und höre dazu etwas Musik oder schaue mir einen Clip an.
    Wenn ich nach Stunden solcher Aktivität sage, ich hätte »Facebook genutzt«, dann sagt das herzlich wenig über die Natur oder die Qualität meiner Erfahrungen aus. Dazu bedarf es etwas, womit ich die besondere Art meiner Begegnungen und Interaktionen bewerten kann, also eines Maßstabs für meine Gefühle und Motivationen, verbunden mit dem Anerkennen, dass deren Realität nicht dadurch geschmälert wird, dass ich in einem nicht realen Umfeld agiert habe.
    In einer Stunde online habe ich höchstwahrscheinlich mit Dutzenden anderer Menschen Neuigkeiten und Meinungen ausgetauscht. Wie ich dies emotional verarbeite, färbt vermutlich auch meine Eindrücke vom Rest des Tages.
    Das soll nicht heißen, dass ich online dieselbe Person bin wie im Real-Life. Es trifft jedoch zu, dass die besten Kriterien, um meine Online-Erlebnisse zu beurteilen, exakt dieselben sind, die auf die meisten anderen sozialen Erfahrungen und Interaktionen in meinem Leben anwendbar wären: Wie viel konnte ich lernen oder kommunizieren? Wie intensiv fühlte ich mich mit anderen emotional verbunden? Wie stark wurde mein übriges Leben von meinen Interaktionen bereichert?
    Manche Befriedigungen sind auf digitalem Wege einfacher zu erlangen als andere. Online zu bekommen, was wir wollen, ist freilich oft weit von dem entfernt, was wir tatsächlich brauchen – wenngleich beides in der Regel schneller geht. Wenn wir uns körperlos durch den virtuellen Raum bewegen, tun wir uns leichter als in einer physischen Umgebung. Es ist einfacher für uns, sowohl altruistisch und offen zu sein als auch zu betrügen und Kummer zu verursachen. Die menschlichen Realitäten hinter der Mattscheibe zu ignorieren macht unser Leben leichter.
    In diesem Sinne ist die Technologie also eine Art Verstärker unseres menschlichen Wesens – eine Fülle von Möglichkeiten, die schlimmstenfalls das Risiko bergen, Mitmenschen auf bloße Objekte zu reduzieren: Präsenzen, die wir beliebig an- oder ausschalten und denen wir nur wenig Respekt oder Ehrlichkeit schulden. Hinter dem Schleier einer immer größeren Komplexität nehmen wir regelmäßig das Risiko in Kauf, uns voneinander zu entfernen und keine echten Beziehungen mehr einzugehen – auch keine wirklich introspektiven Beziehungen zu uns selbst.
    Die letzten drei Jahrzehnte der Netzaktivität haben jedoch nicht allein zu einer zunehmenden Objektivierung und einfacheren Selbstbelohnung geführt. Wenn ich mir die digitale Landschaft des Jahres 2011 ansehe, dann sehe ich eine Plattform, die verzweifelt versucht, ihren öffentlichen Plätzen größere Tiefe zu verleihen, diese um jeden Preis zu personalisieren und zu vermenschlichen. Wie sonst ließe sich unsere Bereitschaft erklären, die digitalen Aspekte unseres Lebens immer komplexer und dabei menschlich-fehlerhaft zu gestalten?
    4.
    Es sind die menschlichen Bindungen und Zufallstreffer, die online am wichtigsten sind. Sie werden mehr als alles andere die Zukunft der digitalen Technologien bestimmen. Eine Welt, in der jeder lebende Mensch das technische Verständnis der heutigen jüngsten Genera tion besitzt, ist trotzdem schwer vorstellbar. Doch es wird eine Welt sein, in der Entfernungen aller Art eine ganz andere Bedeutung haben als heute – eine Welt, in der Familien und Freunde, Jung und Alt

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