Wie man leben soll: Roman (German Edition)
erhält (vierzehn Zentimeter kann nicht stimmen), liegt es zweifellos an der Qualität der Erektion. Man bessert nach. Atemberaubende sexuelle Phantasien, die man lieber niemandem erzählen sollte, sind dabei recht hilfreich. Man drückt und dehnt und zerrt. Wenn man sich bereit fühlt, misst man noch mal. Da man nun dem Maßband die stolze Zahl sechzehn abtrotzt, ist man zufrieden. Aus Neugier misst man auch den Umfang. Dieser beträgt ebenfalls sechzehn Zentimeter. Ob das viel ist oder wenig, weiß man nicht. In einschlägigen Magazinen wird immer die Länge thematisiert, und auch die aktuelle Ausgabe von
Der Körper
, die sich eingehend mit dem Thema beschäftigt, bietet keinen Aufschluss.
Merke: Wenn man in öffentlichen Bedürfnisanstalten immer nur die roten Ampeln sieht, sollte man getrost nachmessen.
Wenn man Tante Ernestine besucht, erlebt man Stunden des Friedens. Zumindest solange nicht Frisur oder Kleidung Thema einer Erörterung werden. Man blättert in den Zeitschriften, die sie abonniert hat:
Autorevue
und
Frau im Spiegel
.
Tante Ernestine liegt auf ihrem speckigen Kanapee und löst Kreuzworträtsel. Gesprochen wird nicht. Das ist keineswegs ungewöhnlich. Man fühlt sich wohl bei ihr, und sie freut sich, wenn man da ist. Überdies verursacht die aus dem Café mitgenommene Torte gefräßiges Schweigen.
Um halb acht wird es Zeit aufzubrechen. Man beugt sich zu Tante Ernestine hinab, um sie auf die Wange zu küssen.
– Ich hab dir noch nichts gegeben.
– Ist nicht nötig, Tante.
– Bring mir meine Geldbörse! Die Generation der vor und um 1900 Geborenen ist eine einzigartige, wie man nicht nur, aber besonders an Tante Ernestine festzustellen Gelegenheit hat. Die, die übriggeblieben sind, sind nicht umzubringen, ob Raucher, Säufer, Arbeiter oder Vertreter anderer Risikogruppen. Und speziell Tante Ernestine ist ein Naturereignis, über das man immer wieder schmunzeln muss. Sie mag ja fast hundert sein, doch in ihrem Ton ist sie ebenso herrschsüchtig wie der Rest der Familie.
Man zieht die Lade heraus. Die Geldbörse liegt obenauf. Darunter findet man die Unterhosen, die man ihr zu Weihnachten geschenkt hat. Sie sind originalverpackt. Mit zwei Fingern hält man sie hoch.
– Haben die dir nicht gefallen?
– Ja, nein, hm …
Sie ist verlegen. Aber schnell fasst sie sich.
– Was brauche ich neue Unterhosen! Es ist schade drum. Später kann jemand anderer sie nehmen.
Mit »später« ist die Zeit nach ihrem Tod gemeint. Man wird zornig.
– Und du? Kannst du sie nicht tragen?
– Jetzt hör aber auf! Gib mir die Börse! Und geh dich frisieren! Wie du wieder aussiehst!
Mutters Hausschuhe stehen unter der Garderobe. Dafür ist der Hund daheim. Man bringt Nero in den Hof. Zum Glück ist die Katze nicht zu sehen. Es hat geschneit, man schlägt die Arme um den Leib und treibt Nero zur Eile an. Weil einem die Zeit lang wird, salutiert man, hebt die Beine zackig wie ein Soldat bei der Parade und singt zur Melodie des Radetzkymarschs:
Ja der Arsch, ja der Arsch, ja der Arscharscharsch…
Das tut man so hingebungsvoll wie üblich, bis man den Nachbarn sieht, der auf seinem Balkon steht und einem den Vogel zeigt. Beleidigt verstummt man.
Man macht sich eine Dose Bohnen auf. Sieht fern. Das Telefon läutet.
Tante Kathi will Mutter sprechen. Man sagt, sie schlafe bereits. Sich gegenseitig gegenüber den Tankels zu decken ist in diesem Haus alte Gewohnheit.
Tante Kathi fragt nach der Schule. Man antwortet mit ja und nein, endlich legt sie auf. Man nimmt sich eine Limo. Dass Mutter noch immer nicht daheim ist, findet man nicht beunruhigend.
Wenn um halb elf auf der Straße Schreie gellen, sollte man so tun, als habe man nichts gehört. Nicht jedermann ist den eventuell daraus resultierenden Verwicklungen gewachsen.
Laut
Die Persönlichkeit
gibt es außer dem Sitzer noch weitere Charaktertypen: den Trickser etwa oder den Mitläufer oder den Draufgänger. Wohl nur ein Draufgänger würde sich um die Nöte Fremder kümmern. Und viel von einem Draufgänger steckt nicht in einem, das hat ein Test, den man in
Die Persönlichkeit
gemacht hat, ergeben. Ihn auszuwerten hat man sich noch nicht getraut, doch das weiß man auch ohne Auswertung.
Da man unter einer Eigenschaft leidet, die Romantiker als Gewissen bezeichnen, schleicht man dennoch ans Fenster. Nichts ist zu sehen. Die Schreie hört man weiterhin. Man läuft hinunter. Zwar hat man Angst, in etwas hineinzugeraten,
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