Wie man leben soll: Roman (German Edition)
doch man will nun wissen, was da vor sich geht.
Wenn man Zeuge wird, wie die eigene Mutter vor zwei Männern flüchtet, die ihr Obszönitäten hinterherschreien, rutscht einem das Herz in die Hose. Man erwägt, ihr zu Hilfe zu kommen. Oder sollte man die Polizei verständigen?
Ehe man einen Entschluss getroffen hat, bleibt Mutter stehen, als sei sie gegen eine unsichtbare Wand gerannt. Sie dreht sich um und geht knurrend auf die Kerle los. Dem ersten verpasst sie einen Tritt zwischen die Beine, dass er mit einem Schrei zusammensinkt. Der andere weicht zurück. Sie drängt auf ihn ein. Er holt aus, sie ist schneller. Die beiden wälzen sich ineinander verkrallt auf dem Boden.
Wenn man sieht, wie die eigene Mutter auf dem Rücken eines Mannes sitzt, ihren schweren Ledergürtel aus den Schlaufen zieht und mit dessen Schnalle auf den Mann einzudreschen beginnt, glaubt man zu träumen. Die Geräusche, die der Gepeinigte mit schriller Stimme ausstößt, sind eines erwachsenen Mannes unwürdig, und obwohl er die Hiebe ja verdient hat, ist man froh, als Mutter diese brachiale Erziehungseinheit beendet. Siespringt auf und läuft, den Gürtel schwingend, dem anderen Angreifer hinterher. Man sieht zwei Männer jaulend die Straße hinabflitzen, die eigene Mutter hinterdrein.
Man schleicht zurück ins Haus.
Merke: Wenn man zum ersten Mal seine Mutter raufen gesehen hat, nimmt man sich vor, sich bald in einen Fitnessclub einzuschreiben.
Wenn man eine Beziehung eingegangen ist, hat man die Familie des Partners mit an der Angel.
Angesichts der desaströsen Verhältnisse im eigenen Heim nimmt man die Zuwendung von Claudias liebem Papa und Claudias lieber Mama gern an. Bereitwillig unternimmt man mit ihnen Ausflüge am Sonntag. Beim Nachmittagskaffee lauscht man Familienanekdoten und ist stolz auf das angebotene Du.
Zu einem Problem wird diese Konstellation erst, wenn man an der Freundin das Interesse zu verlieren beginnt. Zumal Veronika zwar unerreichbar ist, man ihr Bild aber nach wie vor im Herzen trägt. Außerdem sendet eines der betörenderen Mädchen der Klasse Signale der Zuneigung aus und macht ihre Bereitschaft zu tabulosem Sex deutlich. Hier zeigt sich das durch die Beziehung zu Claudia gestiegene Ansehen. Obwohl man an Übergewicht leidet, ist man selbst zu einer Trophäe geworden, und es gibt Jägerinnen!
Wie nun das Problem lösen? Wie vor Werner und Anni hintreten und sagen, dass man ihre Tochter am liebsten zurückgeben würde?
Wenn es Claudia allein wäre, das ginge an. Diesen Schwierigkeiten sieht man bangen Herzens, doch mit der Überzeugung entgegen, sie meistern zu können. Claudia wird weinen, wird von den in zwei Jahren geplanten Rucksackreisen nach Indien und Afrika reden, wird jammernd auf den gemeinsamen Besitz zeigen (Lebkuchenherz, Cat-Stevens-LP, zwei abgerissene Kartenvom Deep-Purple-Konzert, Stoffhund »Maxi«), wird einen Neuanfang anregen.
Natürlich wird man selbst weinen. Aber in Wahrheit ist die eigene Leidenschaft für diese Hippiegeschichte mit Love und Peace und Kommunen bei Goa merklich im Abkühlen. Und für Afrika interessiert man sich seit jeher einen Dreck. Maxi wird einem fehlen, freilich. Man wird mit Claudia eine Welt aufgeben. Aber man wird es fertigbringen. Auch wenn man eine Weile traurig ist. Denn traurig ist man mehr oder weniger immer ein bisschen.
Anders verhält es sich mit Claudias Eltern.
Man mag sie. Fühlt sich ihnen verpflichtet. Das geht nicht, erst ihre Freundschaft annehmen, dann ihre Tochter verletzen. Und man kann ihnen vor allen Dingen nicht die Wahrheit sagen. Denn ehrlich wäre man bloß, wenn man eröffnete: »Es tut mir leid, ich muss Claudia verlassen, und zwar aus folgendem Grund: Ich bin siebzehn Jahre alt und möchte meinen Penis auch in andere Scheiden hineinstecken. Die von Claudia kenne ich in- und auswendig. Claudia ist nett, ihr seid nett, aber ich hätte gern jeden Tag Geschlechtsverkehr mit einer anderen Frau. Ich würde sogar mit dir gern schlafen, Anni.«
Aus offensichtlichen Gründen kann man nicht ehrlich sein. Also könnte man sagen: »Lieber Werner, liebe Anni, ich bringe schreckliche Kunde, Claudia und ich haben uns auseinandergelebt. Wir sehen wenig gemeinsame Perspektiven. Aber wir haben uns sehr gern. Vielleicht gelingt uns nach einiger Zeit eine Neuordnung der Verhältnisse auf fundierterer Basis. Und letztendlich zählt ja der gemeinsam zurückgelegte Weg.«
Hat man oft genug in Tante Ernestines Zeitschriften
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