Wie man leben soll: Roman (German Edition)
fühlen wie ein Mitglied der Familie Duck. Die Großeltern sind tot, der Vater schickt Briefe aus Schweden, in denen fremde Geldscheine stecken. Einmal im Jahr trifft sich die ganze Verwandtschaft, das gibt ein Höllenspektakel. Zwölf Onkel und Großonkel, sechzehn Tanten und Großtanten. Und man ist der Einzige aus der Generation darunter. Man hat sich eine Liste gemacht, was man Petrus eines Tages zu fragen gedenkt, und diesen Punkt will man zuerst ansprechen.
Selbstverständlich sind auch immer die besten »Freunde der Familie« zugegen, die Seifensieder aus Tulln. So werden sie von Onkel Hans genannt, der für die Handwerkskünste des Seifensieders milden Spott übrig hat. Wenn man den Seifensieder trifft, könnte man meinen, einen Kriegsinvaliden vor sich zu sehen. Doch sein extremes Schielen ist angeboren, und das Fehlen von drei Fingern verdankt er seiner Ungeschicklichkeit beim Basteln. Seinen Heimwerkerkeller musste man schon des Öfteren bewundern. Eigentlich ist er Orthopäde, und es wird erzählt, er sei ein Kurpfuscher. Gewiss scheint laut Onkel Hans nur, dass der Seifensieder kein großes Licht ist, da er »Seifensieder« für ein Kompliment hält und begonnen hat, sich selbst so zu nennen. Er stammt zwar aus Tulln, ist aber schon vor langer Zeit von dort fortgezogen. Er hat eine Praxis in der Innenstadt.
Das netteste Familienmitglied ist Urgroßtante Ernestine. Bei ihr ist man halb und halb aufgewachsen. Niemand hat sich so sehr um einen gekümmert wie sie. Bei ihr hat man ferngesehen, als Mutter noch zu arm und die Tankels noch zu geizig für einen Fernsehapparat waren. Bei ihr hat man Schokolade gegessen und Taschengeld gekriegt und all die Dinge getan, die überall sonst verboten waren.
Tante Ernestine wohnt am Stadtrand und gilt als das schwarze Schaf der Familie. Seit Tante Kathis erfolglosem Versuch, sie entmündigen zu lassen, haben sich die beiden bei Familienfeiern Plätze nebeneinander ausbedungen, um einander schweigend kalte Blicke zuzuwerfen. Man ist der Einzige, der Tante Ernestine besucht. Sie ist siebenundneunzig Jahre alt, äußerst sparsam, wenn auch keineswegs geizig, und hat eine rätselhafte Zuneigung zu Autos.
Die in der Familie übliche physische Robustheit ist ihr geblieben. Wenn vor ihrem Haus Jugendliche Unfug treiben, kann es sich nur um neu Zugezogene oder um frühgereifte Masochisten handeln. Wie der Blitz ist sie unten und schafft Ordnung. Abund zu beschweren sich Leute bei ihr, dass sie ihre Jungen verdroschen hätte, und drohen mit der Staatsgewalt. Dann schwingt Tante Ernestine ihren Stock und schaut so irre, dass die Besucher es in der Regel vorziehen, von weiteren Verhandlungen Abstand zu nehmen.
Einmal erschien aufgrund eines derartigen Vorfalls die Polizei. Tante Ernestine legte sich ins Bett und weinte über solche Niedertracht, sie sei eine schwache alte Frau und tue niemandem etwas zuleide.
– Und wie steht es mit den blauen Flecken, woher hat der Junge die?
– Er wird auf dem Weg zum Verhör gestolpert sein, Herr Inspektor.
Es gibt noch ein Familienmitglied. Sein Name ist Nero. Nero ist der siebenjährige Yorkshire-Terrier der Mutter, den sie vor Jahren aus dunklen Motiven ihren einzigen Freunden, den Kleibers, abgekauft hat. Dieses sinnlose Vieh nimmt sie sogar zur Arbeit mit. Er ist nicht größer als eine Katze und kläfft beim geringsten Anlass. Man mag den Hund, aber man ist gegen den Geruch, den er verströmt, allergisch. Außerdem hat man ihn im Verdacht, an einer Geisteskrankheit zu leiden, da er verschiedene seltsame Vorlieben hegt, etwa für Socken und Zimmerpflanzen, aber auch für Schallplatten, die er mit Begeisterung spazierenträgt, besabbert und zerkratzt.
Wenn man Tante Ernestine besucht, bekommt man Geld. Sie ist etwas wunderlich und hat Sonne im Herzen.
– Wie du aussiehst, sagt sie schon an der Tür, man muss sich schämen!
– Wieso? Was meinst du?
– Deine Frisur! Schau auf die Gasse, wie nett die anderen Burschen aussehen! Und du …
Man sieht sich die Burschen auf der Gasse an. Sie tragen Dauerwelle und bemühen sich um einen Schnauzbart. Das gefällt ihr.
Wenn man von einer Autoritätsperson des nachlässigen Umgangs mit dem eigenen Äußeren geziehen wird, hilft nur ein Ablenkungsmanöver. Da Tante Ernestines Groll gegen die Familie längst biblische Wucht erreicht hat, genügen einige Bemerkungen über Tante Kathis neuen Haarschnitt, die man mit der Floskel »a propos Frisur« einleitet. Danach ist keine
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