Wie man leben soll: Roman (German Edition)
ein, dass Mutter trotz aller Animositäten sicherheitshalber einen Zweitschlüssel zu Tante Ernestines Wohnung hat.
Man fährt zurück, schnappt sich den ganzen Bund. Mutter hat noch immer zu tun. Um drei steht man wieder vor dem sauberen Vorstadthäuschen. Man stellt das Moped ab, sperrt das Haustor auf.
Unendlich leise, unendlich langsam öffnet man Tante Ernestines Wohnungstür. Es ist stockfinster. Auf Zehenspitzen tappt man durch die Wohnung. Der alte Holzboden knarrt. Man legt sich bäuchlings hin, um das Gewicht zu verteilen. Wie ein Indianer sich anschleichend, benötigt man zehn Minuten, bis man neben Tante Ernestines Bett zu liegen kommt. Es riecht nach ihr. Ein Geruch nach alter Frau, nach Duftwasser und frischer Wäsche.
Man hört nichts. Man gerät in Panik. Ist sie tot? Sie darf nicht tot sein! Tränen schießen einem in die Augen. Man ist verzweifelt. Dazu kommt das gespenstische Bewusstsein, mit einer Leiche allein im Raum zu sein.
Und dann beginnt Tante Ernestine herzhaft zu schnarchen. Ein Pfeifen und Rasseln dröhnt durchs Zimmer, dass der Spiegelschrank erklirrt. Man ballt die Fäuste. Man ist so erleichtert, dass man sich nicht zu bewegen vermag. Nachdem man sich beruhigt hat, tritt man den Rückzug an.
Als man zu Hause den Schlüsselbund an seinen Platz zurücklegt, wird Mutters Schlafzimmertür geöffnet. Man huscht in sein Zimmer. Man hört, wie der Besucher unter Hervorbringunggutturaler Laute verabschiedet wird. Auf dem Heimweg ins Schlafzimmer macht Mutter schmerzhafte Bekanntschaft mit dem Türstock.
– Du Arsch, lallt sie.
Merke: Wenn man abergläubisch ist, beruhigt es ungemein, wenn man inneren Stimmen nachgeht.
In der Schule gibt es oft politische Diskussionen. Man hält sich raus. Im Ratgeber
So mache ich mir Freunde
hat man gelesen, dass man es sich durch unbedachte Äußerungen sehr leicht mit der einen oder anderen Seite verscherzen kann. Da es einem an Schönheit, Talent und anderen herausragenden Eigenschaften gebricht, zieht man sich mit Witzen und charmanten Artigkeiten aus der Affäre. So wie es der Ratgeber empfiehlt.
– Ihr seid in dieser Schule, weil ihr keine Hilfsarbeiter werden wollt, sagt der joviale Geschichtslehrer. Was habt ihr für Berufswünsche?
– Lehrer, sagt man, als man an der Reihe ist.
– Lehrer! Darf man den Grund erfahren?
– Es liegt an den hervorragenden Vorbildern, die mir hier präsentiert werden, Herr Professor.
Da der Geschichtslehrer jedoch nicht nur jovial, sondern auch missionarisch und höchst streitlustig ist, verzichtet er selten darauf, nachzubohren, auf welche Seite man sich in dieser und jener Frage zu stellen gedenkt. In diesen Fällen springt einem Claudia bei. Als Feministin, die in zerrissenen Jeans rumläuft und Peace-Buttons an ihre Jacke steckt, verwickelt sie ihn in Grundsatzdiskussionen, die Lehrer seines Schlages sehr gern haben.
Mittlerweile ist Claudia aufgeblüht, hat die Eulenbrille gegen Kontaktlinsen und die Zöpfe gegen wallendes Haar eingetauscht. Nun sieht sie aus wie die Fliege Puck mit Kontaktlinsen. An Diskussionen über die Rechte der australischen Ureinwohner beteiligt sie sich so eifrig, dass man selbst von der Verpflichtungzur Gesprächsteilnahme entbunden ist. Es wird Händchen gehalten.
Auch der Umstand, dass nach einem halben Jahr noch immer kein Geschlechtsakt vollzogen wurde, kann der Zuneigung keinen Abbruch tun. Obschon es ärgerlich ist und die ewige Onaniererei mit dem Strumpf oder auf dem Klo allmählich lästig wird. Aber wie soll man miteinander schlafen, wenn beide Beteiligten Jungfrau sind? Das Kondom, mit zitternden und glitschigen Fingern übergestülpt, ist eng und unbequem, und eine Erektion in all der Aufregung nicht lange zu halten.
Es ohne dieses Verhütungsmittel zu probieren, darf einem trotz Einnahme der Antibabypille seitens des Mädchens nicht einfallen. Als wohlinformierter und verantwortungsbewusster junger Mensch und Abonnent von
Der Körper
weiß man, wie hoch die Gefahr einer HI V-Infizierung bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr ist. Wenigstens hat einem Claudia schon zweimal aus Versehen einen runtergeholt. Obwohl es danach Geschrei gab und Worte wie »Schweinerei« und »Pfui Teufel« fielen, nähren diese Ereignisse die Hoffnung.
Um in der Klassengemeinschaft einen besonderen Platz zu beanspruchen, sind akzentuierte Standpunkte erforderlich.
– Hast du den Handke schon gelesen?
– Selbstverständlich!
– Etwas zäh, hm?
– Wenn du deinen
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