Wie man leben soll: Roman (German Edition)
Claudia, um das Geheimnis zu lüften. Den Knutschfleck unter Claudias Ohr versteckt man nicht, im Gegenteil, er hat Arbeit gemacht, ebenso wie der an Claudias Hals.
Bei den Klassenkameraden erntet man verwunderte, teils neidische Blicke und jenes verschämte Lächeln, das mit amourösen Sensationen einherzugehen pflegt. Sogar das Unglück der amerikanischenRaumfähre tritt in den Hintergrund. Für den Stolz, den man dabei fühlt, braucht man sich nicht zu schämen. Eine Freundin zu haben bedeutet, zu einer Siegerkaste zu gehören. Damit hat man, wenigstens theoretisch, selbst vielen Erwachsenen etwas voraus.
Überdies gilt es zu bedenken, dass wohl auch Lehrerinnen und Lehrer zu jenem traurigen Kreis von Gottverlassenen zählen mögen, die seit langer Zeit sexuell abstinent leben, etwa deshalb, weil sie aussehen wie Eulen oder in den Keller lachen gehen. Und die dürfen nun zuschauen, wie zwei der ihnen zur Kultivierung Zugewiesenen jene Freuden genießen, die ihnen selbst verwehrt bleiben.
Als Teil eines Pärchens steigt man im Ansehen anderer automatisch, ob es ihnen bewusst ist oder nicht. Was macht es da, dass es in der Klasse reizvollere Mädchen gibt? Solche mit anziehenderen Gesichtern, mit entwaffnenderen Brüsten? Freilich würde eine Beziehung mit einer von ihnen noch mehr Aufsehen erregen. Aber die dummen Gänse wollten ja nicht. Nun sollen sie sehen, wo sie bleiben.
Merke: Wenn man Gelegenheit findet, eine Partnerschaft einzugehen, sollte man sie nützen. Es ist gut für die Hormone, die Lebenserfahrung und den Ruf.
Man ist Teil einer überspannten Familie. In ihrem Zentrum stehen Großtante Kathi und Großonkel Johann. Der Einfachheit halber nennt man sie Tante und Onkel. Tante Kathi, eine betont korrekt Deutsch sprechende Juristin, war früher eine hohe Beamtin in der Stadtverwaltung. Onkel Johann trug die grüne Uniform der Polizei. Angeschossen wurde er nie, aber er tut so. Er gibt sich als Patriarch. Die letzte Entscheidung trifft in Wahrheit Tante Kathi. Niemand darf wissen, dass Onkel Johann bügelt und abwäscht. Alle wissen es. In der Familie haben Frauen das Sagen.
Tante Kathi und Onkel Johann, vor diesen beiden zittern alle. Auch Mutter. Die ist in ihrem Büro – sie arbeitet als Sekretärin in einem Mineralölkonzern – eine gefürchtete Person, die jedem die Meinung sagt. Sie hat die Figur einer Ringerin und ist gewohnt, sich auf jede erdenkliche Weise durchzusetzen. Im Freibad macht sie sich den Spaß, gegen Männer armzudrücken. Meistens gewinnt sie.
Sie hat alles Mögliche ausprobiert. Einige Jahre lebte sie auf einem Bauernhof, wo sie versuchte, die Hühner zu hypnotisieren, um den Eierertrag zu maximieren. Da es sich sowohl bei Federvieh als auch bei Schweinen und Schafen um nicht allzu hypnoide Wesen handelt, gab sie den Bauernhof auf und versuchte sich mit einer Schmuckkollektion. Darin zeigte sie solches Geschick, dass sie bis zum Jahr 2017 Zeit hat, die Schulden mit ihrem Sekretärinnengehalt zu begleichen.
Ihre geharnischte Art ist ihr trotzdem geblieben. Nur gegendie Tankels, wie Tante Kathi und Onkel Johann nach einem für Onkel Hans typischen Wortspiel genannt werden, sagt auch sie nichts, niemals, auf keinen Fall, nie-, niemals.
Ihre seit einigen Monaten anhaltende Trunksucht findet man ekelhaft. Doch man ist dankbar dafür, dass sie weiß, wie es in der Welt zugeht. Mit ihrer Meinung hält sie nicht hinter dem Berg, so dass man von ihr über internationale Zusammenhänge aufgeklärt wird. Sie ist für die netten Israelis und gegen die stinkenden Araber, in Nordirland für die Protestanten und gegen die Katholiken, obwohl sie nicht ganz sicher ist, zu welcher Seite die IRA gehört, und die Amerikaner hasst sie. Sehr stolz ist sie auf fremdländische Ausdrücke, die sie irgendwo aufgeschnappt hat. Wenn man sich eine Weile nicht duscht, ist man bei ihr ein »Feute«, was angeblich französisch ist, und wenn man feig ist, hat man keine »Kotschons«, was immer das auch bedeuten mag.
Tante Wilma ist Tante Kathis Schwester. Sie und Onkel Hans sind das Gegenteil der Tankels. Sanft, umgänglich, einigend. Und den beiden Alten natürlich überhaupt nicht gewachsen. Bei Familienfesten sind sie die Lichtblicke. Onkel Hans merkt man an, dass er nicht blutsverwandt ist, denn er macht Scherze und zwinkert einem zu. Früher hat er einem zuweilen etwas mitgebracht. Man mag ihn.
Die Familie besteht aus lauter Onkeln und Tanten. Wäre da nicht Mutter, würde man sich
Weitere Kostenlose Bücher