Wie wir gut zusammen leben
wieder für mehr Bürgerbeteiligung auf Bundesebene einzutreten, jedoch im Juni 2012, als die Münchener sich gegen die dritte Start- und Landebahn am Flughafen München in einem Bürgerentscheid aussprachen, genau jenen Bürgerwillen infrage stellte, dann ist das Paternalismus, aber nicht Politik. So kann Seehofer vollmundig behaupten: »Es ist doch die verdammte Pflicht, auf die Bevölkerung zu hören …«, und dann im direkten Anschluss ergänzen, »… und Berechtigtes durchzusetzen.« Wer aber entscheidet, ob etwas berechtigt ist? Die Antwort ist klar: der Ministerpräsident.
Zum Politikersein gehört nicht nur die Bereitschaft, die eigenen Wahrnehmungen und Einstellungen zu erweitern, sondern auch, sie nötigenfalls durch andere zu ersetzen. Damit wird nicht einem anything goes das Wort geredet. Veränderung ist nicht das Gegenteil eines Wertekonservatismus, sondern die Voraussetzung dafür, eine den Werten entsprechende Haltung auszubilden. Was für Werte im Allgemeinen gilt, das gilt für politische Werteim Besonderen: Sie besitzen einen Überschuss. Das heißt, politische Werte enthalten mehr, als wir in der konkreten Situation wahrnehmen und umsetzen können. Was ist Gerechtigkeit? Was ist Freiheit? Was ist Toleranz? – All das sind alte Fragen, die wir auch heute immer wieder neu stellen. Diese Werte widersetzen sich nämlich immer wieder neu den eindeutigen Festlegungen. Von diesem Mehr der Werte haben wir nicht nur ein Wissen, wir fühlen ihn. Wer den Werten dieses Mehr nimmt, zerstört sie. Die Bedeutung der Werte für die Veränderung zeigt sich im Vergleich mit Markwerten: Auch Marktwerte verändern sich. Diese Veränderung geht jedoch nicht von den Werten aus, sondern von den Anbietern eines Gutes und den Bedürfnissen der Nachfrager. Hingegen sind politische Werte nicht einpreisbar. Sie widersetzen sich immer wieder den Auslegungen, und das nicht nur, weil sie von Dritten anders bewerten werden, sondern weil sie selbst eine Mannigfaltigkeit enthalten, die immer wieder neu eine Veränderungsdynamik freisetzt.
Politik ist das Gegenteil von Rechthaberei. Aus diesem Grund ist Politik wesentlich eine Politik des Kompromisses. Wir benötigen dringend ein neues Verständnis des Kompromisses, denn nur eine Politik des Kompromisses kann eine Politik der Anerkennung anderer sein, da sie den Anderen nicht neutralisiert, sondern dessen Position anerkennt. Eine Politik des Kompromisses verlangt viel von uns allen. Der Philosoph Aviashai Margalit betont, dass der Kompromiss die schmerzhafte Anerkennung des Standpunktes des Anderen ist. Er neutralisiert Feindschaft und geht mit dem Verzicht auf eigene Ansprüche einher. Ein Kompromiss ist aber nur gut, und darauf insistiert Margalit, wenn er frei von Nötigung ist. Eine Politik des Kompromisses hilft, die Kämpfe in der Politik zu beenden, die nicht im Interesse des Gemeinwohls geführt werden. Der Kompromiss durchbricht den Vorrang des Ökonomischen vor dem der Politik, da er auf dem Versprechen der Kooperation und nicht der Konkurrenz beruht. Für eine Politik der Anerkennung ist der Kompromiss nicht die zweitbeste Lösung, sondern fundamental. Eine Politik des Kompromisses benötigt allerdings demütige Politiker. Demut heißt, sich zurückzuziehen, Raum zu geben für Andere und Anderes. Demut ist Veränderungsbereitschaft und als solche »die Voraussetzung gelebter Hoffnung« (Günter Virt). Ihr Gegenteil ist die Vollmundigkeit des Immer-schon-Bescheidwissens.
Gerade die Vertreter von Oppositionsparteien unterliegen in ihrer Kritik an der Regierungspolitik der Versuchung des Bescheid- und Besserwissens. Das gilt insbesondere für DIE LINKE. Sie tut sich schwer mit einer Politik der Konversion. Sie hat ein klares Feindbild: den Kapitalismus. Wer jedoch Politik auf der Basis eines Feindbildes betrachtet, der ist immer im Recht, der reklamiert Wahrheit für sich. Wer jedoch derart in seiner politischen Identität von seinem Feind abhängt, der muss sich kritisch fragen, ob er sich in seinem Innersten wirklich eine Veränderung, hier: die Abschaffung des Kapitalismus, wünscht. Denn würde der Feind verschwinden, löste sich auch die eigene Identität auf.
Wahrheit ist nicht etwas, das man besitzen kann. Wer mit Wahrheit konfrontiert wird, der muss sich ändern. Wer von Wahrheit spricht, der kann nicht mehr mit sich identisch sein, denn Wahrheit verlangt immer die Konversion des Menschen.
Nur eine Politik der Konversion kann eine wahre Politik sein.
X I.
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