Wie wir gut zusammen leben
hineingelesene ethische Anspruch besteht nun darin, wie der Sozialethiker und Lebensberater Peter Rottländer gezeigt hat, nicht bei der Wahrnehmung »des eigenen Leids stehenzubleiben«, sondern zur Wahrnehmung und Abschaffung des Leids des Anderen vorzustoßen.
Individuelles Gerechtwerden ist Ausdruck politischer Liebe. Politische Liebe ist das Bestreben, das Individuum und die Gesellschaft, das Partikulare und das Ganze in einer Weise miteinander zu verbinden, durch die das Partikulare in zweifacher Weise das Ganze betrifft: Erstens kann der Leidende unterstellen, dass jeder andere seinen Schmerz, sein Leiden auch nicht erfahren möchte und ablehnt; zweitens zielt die damit einhergehende Veränderung auf das Ganze, weil es das Ganze neu orientiert. Erstdann wäre von »eigentlicher Politik« (Slavoj Žižek) zu reden. Politik beinhaltet die Einsicht, dass derjenige, der einen Menschen rettet, die ganze Gesellschaft rettet. Die Leidenschaft der Politik gründet in der »Mitleidenschaft« (Johann Baptist Metz).
Die Grundfähigkeit, sich vom Leid des Anderen verwunden zu lassen, mitfühlen zu können, wird gefährdet, wenn Kinder keine Anerkennung durch Liebe erfahren oder unter Erfahrungsverlust leiden. Erfahrungsverlust resultiert aus Distanzierungen. Kinder distanzieren sich immer mehr von ihrer Umwelt, wenn sie zunehmend Schockerfahrungen ausgesetzt sind. Werden Kinder mit Gewaltvideos konfrontiert, so muss ihr kindliches Bewusstsein einen Reizschutz mobilisieren. Geschieht dies immer öfter, besteht die Gefahr, dass der Reizschutz auf Dauer gestellt wird. Diese Kinder schotten sich immer mehr von der Umwelt ab, immer weniger gehen Eindrücke in ihre Erfahrung ein. Solche Kinder erleben, aber sie erfahren nichts mehr. Schock zerstört Kontinuität; jede Handlung wird rigoros von der anderen getrennt. Die Dauermobilisierung eines Reizschutzes gegenüber der Umwelt führt zu einer allenfalls rudimentären Ausbildung von Empathiefähigkeit. Ohne Empathie, ohne Mitgefühl kommt Erfahrung und ohne Erfahrung Sinn abhanden, und Sinnverlust bedeutet Werteverlust. Diese Prozesse verändern tief greifend das, was wir unsere Lebenswelt nennen – und damit Politik.
I X.
Krieg ist kein Mittel der Politik.
F ür Aristoteles war es vollkommen klar, dass Politik nichts mit Despotentum zu tun hat, dass Politik dort aufhört, wo Despotentum beginnt. Der Theologe und Philosoph Thomas von Aquin (1225–1274), der an Aristoteles anknüpfte, verstand Politik als Friedenspolitik. Im Zuge der Neuzeit wurde Politik zunehmend dieser moralischen Qualität beraubt. Politik wurde mehr und mehr zum Herrschaftsinstrument. Erst als der moderne Volkssouveränitätsgedanke, die Idee des bürgerlichen Verfassungsstaates und die Menschen- und Bürgerrechte aufkeimten, trat das Verständnis von Politik als Friedenspolitik wieder in Konkurrenz zur bloßen Machtpolitik. Diese Entwicklungen veränderten das Staatsverständnis. Der Staat ist nicht mehr Selbstzweck, nicht die Menschen sind für den Staat da, sondern umgekehrt gilt: Der Staat ist für die Menschen da.
Dennoch ist das Verständnis von Politik als Friedenspolitik bis heute alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Oft hat man den Eindruck, dass es wieder in den Hintergrund getreten ist. Wenn etwa Politiker der LINKEN der Regierung vorwerfen, »Kriegspolitik« zu betreiben, dann wird deutlich, dass das ursprüngliche Verständnis von Politik bei der LINKEN noch immer tief verschüttet ist. Neben der Friedenspolitik scheint es auch noch so etwas wie eine Kriegspolitik zu geben. Die Erkenntnis, dass derBegriff »Kriegspolitik« ein Widerspruch in sich ist, ist vielerorts vergessen.
Dabei gehört es zu den Zeichen der Zeit, Politik wieder als Friedenspolitik zu begreifen. Politik hat nichts mit Krieg und auch nichts mit Vernichtung zu tun. Der Philosoph Burkhard Liebsch hat darauf aufmerksam gemacht, dass das politische Feld verlassen wird, sobald jemandem das Recht zu existieren abgesprochen wird. Aus diesem Grund ist die Leitidee der Politik nicht der gerechte Krieg, sondern der gerechte Frieden.
Die häufige Zitation der berühmten Definition von Carl von Clausewitz (1780–1831), dass der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei, zeigt nicht nur, wie virulent das falsche Politikverständnis noch in der Gegenwart ist, sondern ihr liegt auch ein falsches Verständnis des Krieges zugrunde. Zwar gab es bei Clausewitz einen Vorrang der Politik vor dem Krieg,
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