Wie wir gut zusammen leben
Ermüdungs- und Lähmungserscheinungen müssen wir die Frage stellen, ob unsere Gesellschaft Menschen krank macht.
Immer mehr Menschen, vor allem junge, verlieren die Kontrolle über ihr eigenes Leben. Die Folgen sind Depressionen und Suizide. Manch einer mag sich fragen, ob diese Diagnose nicht allzu pessimistisch sei, gebe es doch viele Hinweise dafür, dass die Jugendlichen leistungsbereit, ehrgeizig und optimistisch seien. Und in der Tat: Viele Jugendliche wollen etwas aus sich machen. Sie schätzen Leistungsbereitschaft, Ehrgeiz und Optimismus. Solche Einstellungen stehen für ein erfolgsorientiertes Handeln. Dagegen ist zunächst einmal nichts einzuwenden. Wenn aber Jugendliche nur noch diese von der Gesellschaft prämierten Vor- und Einstellungen widerspiegeln, dann läuft etwas falsch. Jugend steht für Zukunft, und Zukunft muss immer auch etwas anderes sein, als das, was die Gegenwart ist. Eine Jugend ohneWünsche, ohne den Gedanken, es möge doch anders werden, ist eine Jugend, der der Gedanke der Zukunft abhandengekommen ist. Eine solche Jugend hat ihre Jugendlichkeit verloren. Dieser Verlust der Jugendlichkeit steht aber mitnichten für Reife, dafür, dass Jugendliche bereits erwachsen geworden sind. Im Gegenteil, es steht zu befürchten, dass die Jugendlichen im Kindsein stecken bleiben. Warum?
Leistungsbereitschaft, Ehrgeiz und Optimismus stehen für Erfolg. Erfolg kann nur in einer – wie der Schriftsteller Henry James (1843–1916) es einmal formulierte und wie es der Philosoph Cornel West weiterentwickelt hat – »Hotel-Zivilisation« zu einem Primärwert, einem Wert ersten Ranges aufsteigen. In einer »Hotel-Zivilisation« leuchten die Lichter zu jeder Zeit. Hat man sein Zimmer verlassen und kommt zurück, ist das Zimmer sauber. Man braucht nicht darüber nachzudenken, wer das Zimmer vom eigenen Schmutz gereinigt hat. »Hotel-Zivilisation« ist charakterisiert durch Komfort, Bequemlichkeit, Zufriedenheit. Eine »Hotel-Zivilisation« erzieht Menschen nicht zur Reife, sondern erzeugt Infantilität.
Infantilität stärkt nicht. Sie schwächt. Und so ist es eben nicht verwunderlich, dass immer mehr junge Menschen die Kontrolle über ihr Leben verlieren. Mit steigendem Kontrollverlust wächst das Empfinden, aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein. Das ist der Grund dafür, dass sich immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft gedemütigt fühlen.
Nun, wie reagieren Politiker auf diese Erfahrungen? Gar nicht.
Drei Typen von Politikern prägen die Gegenwart: Da ist zum einen der Typ von Politiker, der den Menschen das Gefühl vermitteln möchte, er habe alles unter Kontrolle. Solche Politiker weisen auf eine permanente Bedrohung hin, steigern mithin stetig das Unsicherheitsgefühl in der Gesellschaft, um sich im selben Augenblick als diejenigen zu präsentieren, die der Gesellschaft Sicherheit garantieren. Gerade Politiker, deren Hauptinteresse der Innenpolitik gilt, führen sich gerne als Herren über den Ausnahmezustand auf. Entscheidungsfähigkeit gilt ihnen als politische Schlüsselkompetenz schlechthin. Ihr Motto lautet: Es ist wichtiger, dass entschieden wird, als was entschieden wird. Für diese Politiker haben parlamentarische Debatten allenfalls einen nachgeordneten Status, stehen Diskussionen doch eher für Ungewissheit und Unsicherheit. Vertrauen in der Gesellschaft wird durch denjenigen geschaffen, der aufgrund seiner Entscheidungskompetenz und -willigkeit das Chaos bändigt. Insbesondere Bundesinnenminister nutzen immer wieder die Gefahren des Terrorismus, um sich als Herren über den Ausnahmezustand zu präsentieren. Der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble verkörperte diesen Typus in seiner Zeit als Bundesinnenminister (2005–2009) geradezu buchstäblich. Man denke etwa an die Debatte über die Schaffung eines Nationalen Sicherheitsrates. Auf diese Diskussion werde ich später noch zurückkommen. Aber auch Hans-Peter Friedrich, obgleich in den Medien immer wieder als »antiautoritär« charakterisiert, weiß sehr wohl, Gefahren, die vom Islam ausgehen, stärker hervorzuheben als die Chancen. Ebenso ist in diesem Zusammenhang auf Regierungspolitiker hinzuweisen, die den Faktor Zeit gegen die parlamentarische Debatte stark machen und die Euro-Krise an dem Parlament vorbei zu lösen versuchen. Auch sie stehen für diesen Typ des entscheidungsaktivistischen Machtpolitikers.
Neben diesen Machtpolitikern gibt es Politiker, die die Menschen nicht überfordern wollen, weil sie ihnen
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