Wie wir gut zusammen leben
er aufwächst, seine Religion … Es gibt also keine Freiheit im Sinne eines Lebens ohne fremden Zwang. Und das sollte gerade derjenige wahrnehmen, der FREIHEIT großschreiben will. Zudem steht derjenige, der sich Freiheit als ein Leben ohne fremden Zwang einredet, in der Gefahr, nicht mehr von der Freiheit aller Menschen zu reden, sondern von der Freiheit einiger weniger, die es sich leisten können, ein möglichst unabhängiges Leben zu führen, oder die meinen, ein solches zu führen.
Und ein Weiteres fällt auf, wenn man sich mit dem Politikverständnis der Liberalen auseinandersetzt: Die Basisdes Zusammenlebens ist für die FDP die Wirtschaft. Die Wirtschaft steht immer an erster Stelle. So heißt es im Grundsatzprogramm, dass die FDP eine »selbstbestimmte(n) verantwortungsbewusste(n) Teilhabe in der Wirtschaft, Politik und Bürgergesellschaft« anstrebt. Diese Reihung setzt falsche Prioritäten. An erster Stelle sollte nicht die Teilhabe in der Wirtschaft stehen, auch nicht die in der Politik, sondern die Teilhabe an der Bürgergesellschaft. Der Bürgergesellschaft oder, um ein anderes Wort zu gebrauchen, der Zivilgesellschaft kommt gegenüber der Wirtschaft und auch der Politik echte Priorität zu. Sie ist die Basis der anderen Sphären. Das sieht die FDP anders. Für sie ist die Basis des gesellschaftlichen Zusammenlebens die Wirtschaft.
Eine gute Wirtschaftspolitik ist aus Sicht der FDP die beste Sozialpolitik. Sozialpolitik kostet nämlich viel Geld. Und das Geld hierfür muss erst einmal erwirtschaftet werden. Die Gleichung »Wirtschaftspolitik = Sozialpolitik« ist richtig, wenn damit zum Ausdruck gebracht werden soll, dass ein Staat Geld benötigt, um sozial Schwache zu unterstützen. Ohne eine florierende Wirtschaft fehlt Geld, das für soziale Hilfe benötigt wird. Aber die Formel wird bereits brüchig, wenn man den Blick weitet, wenn die Rede von Wirtschaft sich nicht nur auf mittelständische Unternehmen, auf Familienunternehmen bezieht, sondern auch transnationale Konzerne in den Fokus nimmt. Unbeachtet bleibt in den liberalen Überlegungen die Frage, ob der Staat nicht gerade Geld für eine Sozialpolitik braucht, um die Probleme abzufedern, die erst durch die Wirtschaft verursacht worden sind. Gravierender als diese Anfragen ist jedoch die Einsicht, dass die Voraussetzung des zugrunde gelegten Politikverständnisses falsch ist: Die Wirtschaft ist nicht, wie suggeriert wird, die Basis des Sozialen. Es ist genau andersherum: Die Wirtschaft lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann. Wirtschaftliches Handeln basiert auf Werten und Haltungen, die in der Lebenswelt erlernt werden. Ohne ein gewisses Maß an Vertrauen funktioniert ökonomisches Handeln nicht. Verträge, die Unternehmer miteinander schließen, sind niemals wasserdicht. Es bleibt ein Rest eines Vertrauensvorschusses, den die Vertragspartner einander gewähren. Der Begriff »Kredit« (von lat. credere; credo: ich glaube, ich vertraue) meint genau dies. Unternehmen sind deshalb nicht nur auf finanzielle Kredite angewiesen, sondern auch auf diesen Kredit, auf Vertrauen. Die Wirtschaft ist also mehr auf das Soziale bezogen als das Soziale auf das Wirtschaftliche.
Das hat übrigens schon der Begründer der sozialen Marktwirtschaft, Alfred Müller-Armack (1901–1978), hervorgehoben. Er besaß ein Sensorium für die Verschränkung des Kulturellen mit dem Ökonomischen. Und so leitete er die Werte und Gewissheiten unseres Zusammenlebens nicht aus der Marktwirtschaft ab, sondern sah in der Marktwirtschaft eine Form des ökonomischen Handelns, die den geistigen Werten der Kultur entspricht. Eine freie politische Ordnung verlangt auch eine freie ökonomische Ordnung. Soziale Marktwirtschaft stand für ihn für eine Vision jenseits der Alternativen von Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft.
Wer diese Einsichten ernst nimmt, der betrachtet die Wirtschaft nicht als eine von allen anderen Sphären, der Politik und der Gesellschaft, abgelöste Form, sondern als in Gesellschaft und Kultur eingebettete Sphäre.
Die FDP will des Weiteren den Staat als Rechtsstaat stärken – ein originäres liberales Interesse. Aber der bloße Rechtsstaat reicht nicht aus, um Freiheit zu garantieren. Der Rechtsstaat ist auf die Sicherung von Freiheit und Eigentum ausgerichtet. Da diese Absicherung jedoch sozio-ökonomische Ungleichheiten nicht ausgleicht, sondern festschreibt und fördert, ist der Rechtsstaat um die sozialstaatliche Dimension
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