Wikingerfeuer
dem gefallenen Rahsegel ein Wirrwarr ergaben, das irgendwie Halt bot. Rouwen erklomm Handbreit um Handbreit das Tau, während seine Gedanken in ihm tosten wie das Meer. Warum strafte Gott den jungen Elric statt ihn? Weil das Weiterleben die größere Strafe war?
Gerard, der franzische Händler, der nach ihm gerufen hatte, hatte die feisten Arme um ein Fass mit gutem Frankenwein geschlungen und betete. Von der restlichen Besatzung sah Rouwen kaum mehr als Schemen in den Wolken der Gischt. Welle um Welle schlug auf den Schiffsrumpf nieder, peitschte in sein Gesicht wie ein Pfeilhagel und riss die Tränen fort. Er ermahnte sich, sich um sich selbst zu kümmern, und band das Tau, das er am Maststumpf festgemacht hatte, noch um eines der Fässer. Jetzt wäre Zeit zum Beten, sagte er sich, doch ihm wollte nichts einfallen. Sein Rosenkranz wäre vielleicht eine Hilfe, hätte er ihn nicht längst verloren. Seine Gedanken trieben dahin, und irgendwann stellte er fest, dass einige Zeit vergangen sein musste, denn der Sturm ließ nach.
»Wusste ich doch, dass es sich eines Tages auszahlen würde, das Schiff nach dem Schutzpatron der Kaufleute zu benennen.« Gerard, immer noch an sein Fass geklammert, lachte, und es klang ein wenig irr. »Fast meine ganze Ware ist weg, ich bin ruiniert. Aber wenigstens leben wir noch.«
Rouwen sah sich nach dem Rest der Mannschaft um. Zwei Schiffsleute klammerten sich an die geborstenen Planken; ein von Gerard angeheuerter Söldner hielt sich an der Takelage des zerstörten Mastes fest, und dann war da noch ein Sergent des Templerordens, der im Heiligen Land unter Rouwen gedient hatte.
Sechs Seelen hatten den Sturm überlebt; zehn waren demnach über Bord gegangen. Rouwen löste das Seil und kletterte zum höchsten Punkt des Decks, um das Meer überblicken zu können. Mit der Linken hielt er sich an der Reling fest; die andere Hand tastete gewohnheitsmäßig nach seinem Messergürtel über der nassen Lederhose. Seine gesamte Ausrüstung lag wahrscheinlich längst auf dem Grund der See. Aber wenigstens ein Brotmesser, eines zur Jagd und eines zum Kämpfen hatte er noch.
Während er den Blick über die weißen Schaumkronen auf den allmählich ruhiger und kleiner werdenden Wellen schweifen ließ, verdrängte er die Gedanken an Elric und die anderen Toten. Auch die Frage, ob es ein Fehler gewesen war, so früh im Jahr nach Hause zu wollen, stellte er zurück – diese Milch war vergossen. Den Winter hatten sie an der franzischen Küste in einem erbärmlichen Nest verbracht; er hatte das Warten nicht mehr ausgehalten …
Jetzt galt es zu überleben. Nur wie? Den Horizont verdeckten Wolken, so tief und grau, dass man glauben mochte, dort oben befände sich ein weiteres Meer. Der Wind ließ sie bedrohlich wirbeln. Weit voraus tanzten schwarze Punkte – herumtollende Möwen. War dort Land? England? Seine Heimat Northumberland? Tage hatte das Unwetter gedauert; das Schiff mochte sonst wo sein. Wie auch immer, dieser Felsen, der sich der Handelskogge erbarmt hatte, war viel zu weit von der Küste entfernt. Rouwen drehte sich um, versuchte in dem Gewirr von geborstenen Kisten, Truhen, Fässern, Tauen und Planken zu erkennen, ob und wie man daraus etwas bauen konnte, das sie übers Wasser brachte. Er entdeckte seine eigene Truhe, und sie war sogar noch verschlossen. Sie steckte zwischen zwei gebrochenen Decksplanken fest. Ein Wunder, dass sie nicht gesunken war, war sie doch voll von schweren Mitbringseln aus dem Heiligen Land. Dabei war es ihm schon wie ein Wunder vorgekommen, dass er sie nach der verlorenen Schlacht bei Hattin überhaupt hatte retten und mit sich nehmen können. Gott wollte anscheinend, dass der kostbare Inhalt nach Durham gelangte.
Und als wollte der Herr ihm ein Zeichen schicken, brach ein matter Sonnenstrahl durch die Wolkendecke. Rouwen bekreuzigte sich.
»Wir werden überleben, Männer«, rief er heiser. Seine Kehle schmerzte; seine Schultern zitterten von der Kälte. »Haltet euch gut fest, bis der Wind gänzlich abgeebbt ist. Dann prüfen wir, was wir noch an Vorräten haben, versuchen auf dem Felsen so etwas wie ein Lager aufzuschlagen und überlegen, wie wir von hier fortkommen können.«
»Heiliger Martin, steh uns bei!«, jammerte Gerard. »Auf diesem Stein werden wir kaum nebeneinander stehen können.«
Eng würde es werden, aber immer noch besser, als auf diesem schrägen Schiffsrumpf festzuhängen. Vorsichtig, eine Hand immer an der Takelage, arbeitete sich Rouwen
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