Wikingerfeuer
1.
H alt durch, Junge! Halte durch!« Rouwen murmelte die Worte immer wieder, während die Wellen mit furchtbarer Gewalt gegen das Schiff brandeten und es erbeben ließen. Das Seil drohte ihm aus den Händen zu gleiten, bevor es ihm endlich gelang, es um seine Mitte zu knüpfen. Dann warf er sich nach vorne. Die Zeit, den Knoten fest anzuziehen, hatte er nicht. Der würde sich straff ziehen, wenn sich das Seil spannte. Wenn nicht, wäre es sein Tod.
Kopfüber schlitterte er das steil aufgerichtete Deck hinunter. Das Seil, das er am Fuß des gebrochenen Mastes festgemacht hatte, hielt ihn mit einem Ruck auf.
»Gib mir deine Hand, Elric!«
»Meister.« Im Tosen eines sturmgepeitschten Meeres war der Junge kaum zu hören. »Ich kann nicht.«
»Du kannst!«, brüllte Rouwen und reckte eine Hand nach seinem fünfzehnjährigen Knappen. Er, Rouwen von Durham, Sohn eines reichen Earls und zugleich Armer Ritter Christi vom Tempel Salomons, würde dafür sorgen, dass sein Schützling auch diese letzte Schlacht, die sie mit dem entfesselten Nordmeer schlugen, überstand. Es konnte nicht sein, dass sie beide nach den Jahren des Kämpfens im Heiligen Land jetzt ein so schmählicher Tod ereilen sollte. Auf ihrer Heimreise! Es durfte nicht sein!
»Du kannst!«, rief er noch einmal, diesmal weniger laut, doch drängender. Er flehte zugleich zu Gott, nicht so grausam zu sein.
Nasse Strähnen bedeckten Elrics hageres Gesicht. Dahinter waren die ohnehin großen Augen vor Todesangst geweitet. Ein Blick lag darin, den Rouwen in der Schlacht schon oft gesehen hatte. Wenn ein Mann erkannte, dass er sich einem Stärkeren ergeben musste.
»Eine Hand nur, Elric …«
Seine eigene schwebte nur Fingerbreiten von Elrics rechter Hand entfernt, die sich an die Kante einer geborstenen Planke klammerte. Das scharfe Holz hatte seine Haut aufgeschlitzt, und das Blut vermischte sich mit dem Seewasser, das beständig darüber schwappte. Die Linke hielt ein Tau, doch das drohte jeden Augenblick zu reißen. Das eiskalte Wasser ließ Elrics Kräfte schwinden. Längst waren seine Lippen blau, das Gesicht kalkweiß. Und die Augen seltsam dunkel, gleich einem Geistwesen.
Wenn sich das verfluchte Schiff doch aufrichten würde! Um sie tobte der Sturm, doch die Martin von Tours lag beinahe ruhig auf der kochenden See. Sie war mit einem heftigen Ruck, der Rouwen hatte glauben lassen, seine eigenen Glieder würden bersten, gegen einen Felsen gerammt und saß nun stark krängend fest. Dass irgendwo hinter ihm – vielmehr über ihm – die Besatzung der Handelskogge ihren eigenen Kampf gegen den Tod ausfocht, nahm er nur am Rande wahr.
Rouwen streckte sich noch ein Stück. Fast konnte er die Fingerspitzen des Jungen berühren. »Elric, du gottverfluchter Dummkopf, in der Hölle sollst du schmoren, wenn du mir nicht deine verdammte Hand entgegenstreckst. Deine Hand, Elric. Jetzt! «
Plötzlich lächelte der Knappe und sein Gesicht nahm den tadelnden Ausdruck an, den Rouwen schon tausend Mal an ihm gesehen hatte. Doch diesmal entsetzte es ihn. »Herr, Kaplan Heward hat doch gesagt, Ihr sollt nicht fluchen, wenn Ihr nicht in die Hölle kommen wollt.«
Die Finger lösten sich, glitten über das Holz. Nicht weil Elric nach Rouwens Hand zu greifen versuchte – die Kräfte verließen ihn.
Und plötzlich war nur noch dichte, weiße Gischt dort, wo eben noch sein Kopf gewesen war.
»Nein!«, schrie Rouwen. »Elric, nein! Nein! «
Die Zeit stand still. Das Meer, obschon es wild kochte, hörte er nicht mehr. Er starrte auf die Stelle, an der er Elric zuletzt gesehen hatte. Wartete, dass er wieder auftauchte. Und begriff langsam, dass das nicht geschehen würde.
Man sagte, die Nähe des Todes brächte Bilder eines vergangenen Lebens, und so ging ihm durch den Kopf, wie Elric vor Jahren in seine Dienste getreten war, als ein fröhlicher, stets zu Streichen aufgelegter Junge, und wie sich Ernsthaftigkeit auf seine schmalen Schultern gelegt hatte, während er seinem Herrn ins Heilige Land gefolgt war. Wie das Lachen immer seltener gekommen war. Stattdessen stumme Verzweiflung und Angst, zuletzt als sie von den Heiden auf den brennenden Feldern von Hattin umzingelt worden waren … Und nichts blieb nun, nicht einmal ein Andenken, das Rouwen den Eltern des Jungen geben konnte.
Verfluc ht!
Irgendwann hörte Rouwen eine Stimme, die ihn ermahnte, wieder das gekippte Deck hinaufzuklettern, dorthin, wo die aneinandergebundenen Truhen und Fässer des Händlers mitsamt
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