Wildhexe - Die Feuerprobe
»Ich will die Maus sehen.«
Wir gingen zu den alten Toiletten im Hof, die fast niemand mehr benutzte, weil sie aus einer Zeit stammten, in der Kinder noch mit kurzen Hosen rumliefen und jeden Donnerstag eine Tracht Prügel bekamen. Außerdem stank es dort. Vorsichtig zog ich den Ärmel hoch, damit wir beide die Maus anschauen konnten.
Es war eine ganz gewöhnliche Hausmaus, mit grauem Fell und langem Schnäuzchen, mit weißen Tasthaaren und glänzenden schwarzen Augen. Ihre Vorderpfoten waren rosa und erinnerten an winzig kleine Hände. Sie lief nicht weg, sondern setzte sich auf die Hinterpfoten und wackelte mit der Nase.
»Die ist aber niedlich«, sagte Oscar. »Aber die muss jemandem gehören, die ist ja ganz zahm.«
»Das glaube ich nicht«, sagte ich.
»Warum nicht? Eine normale Maus wäre schon längst abgehauen.«
»Mit der hier stimmt was nicht«, sagte ich. »Schau mal ihre Schnauze an.«
Oscar beugte sich nach vorne, um besser sehen zu können. »Stimmt«, sagte er. »Sie ist verletzt.«
Vorsichtig hob ich den Arm, bis die Maus auf Augenhöhe mit mir war. Sie ging wieder auf alle viere und hielt sich mit ihren rosa Pfoten ein bisschen besser fest, aber sie blieb sitzen.
Oscar hatte recht. Auf einer Seite der Schnauze war ein Klecks aus getrocknetem Blut und Flüssigkeit und mittendrin steckte etwas Schwarzes. Ein Dorn. Ein dünner Dorn von irgendeinem Busch hatte sich durch die Oberlippe der Maus gebohrt und saß noch immer dort fest, sodass sie ihr Maul nicht richtig zumachen konnte.
»Oh, die Arme«, flüsterte ich. »Deshalb ist sie so dünn. Sie kann ja nicht mehr fressen.« Und ohne darüber nachzudenken, griff ich den Dorn mit Daumen- und Zeigefingernagel und zog ihn heraus.
Die Maus stieß ein schrilles kleines Piiiiep aus, dann rieb sie sich zehn, zwölf Mal mit den Vorderpfötchen die Schnauze. Schließlich huschte sie meinen Arm hinunter, über meinen Bauch und das Hosenbein, bis sie auf den alten roten Steinboden springen konnte. Dort setzte sie sich für eine kurze Sekunde auf die Hinterbeine und putzte sich noch einmal die Schnauze. Es sah beinahe so aus, als würde sie winken.
»Tschüss«, sagte ich. »Pass gut auf dich auf.«
Eine flinke Bewegung, fast nur ein grauer Funke, dann war sie weg. Routiniert war sie in einem Spalt zwischen Türstock und Fußboden verschwunden. Oscar starrte ihr nach. Dann starrte er stattdessen mich ein bisschen an.
»Okay«, sagte er. »Du hältst dich also für normal? Das kannst du echt vergessen.«
6 EIN ENGEL IM NEBEL
Wir gingen zusammen nach Hause, Oscar und ich. Wir wohnen beiden im selben Häuserblock, dem Stjerne gård, nur wohnt er auf der anderen Seite an der Jupiter Allee, während Mama und ich in der Merkurgade wohnen. Die Häuser hier sind alt, deshalb haben die Wohnungen hohe Decken und winzige Toiletten. Im Innenhof ist eine Gartenanlage, die nach und nach wunderschön urwaldartig zugewuchert ist, mit Kastanienbäumen und Fliederbüschen und so. Nach Erzählungen meiner Mutter begann Oscars und meine Freundschaft, als wir beide in jeweils eine Ecke des Sandkastens gesetzt wurden. Wir schauten uns an und krabbelten sofort verzückt, und so schnell wir zwischen Sand, Plastikeimern und anderen Sandkastenkindern konnten, aufeinander zu.
Oscars Mutter ist auch alleinerziehend. Sie heißt Malene und ist Juristin in irgendeinem Büro in der Innenstadt.
Auf dem Fahrradweg konnten wir die meiste Zeit nebeneinander herfahren. Es war grau und diesig und es platschte, wenn wir durch die Pfützen fuhren. Als wir an die Jernbanegade kamen, war der Fahrradweg zu Ende und ich musste mich hinter Oscar einfädeln. Autos rauschten dicht an uns vorbei und spritzten unsere Beine nass.
»Es ist ganz schön neblig«, rief Oscar über die Schulter und fuhr ein bisschen langsamer.
Und er hatte recht. Der Asphalt glänzte und zwischen den Häusern hing klammer grauer Nebel, der so dicht war, dass die Straßenlaternen von selbst angingen, obwohl es erst zwei Uhr mittags war.
»Vielleicht sollten wir lieber schieben«, sagte ich. »Es ist echt nicht so einfach zu sehen, wo man hinfährt.«
Wir sprangen von den Rädern und schoben sie das letzte Stück der Jernbanegade auf dem Bürgersteig.
»Sogar die Ampeln sind kaum zu erkennen«, sagte Oscar.
Es war wirklich so. Man musste sehr genau hinschauen, um zu erkennen, dass die Fußgängerampel rot war. In dem Nebel war nicht mehr als ein schwacher roter Schimmer zu sehen. Als es grün wurde,
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