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Wildhexe - Die Feuerprobe

Titel: Wildhexe - Die Feuerprobe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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gingen wir rüber. Und genau da passierte etwas total Seltsames.
    Der Bürgersteig verschwand.
    Ich weiß selbst, dass das keinen Sinn ergibt, aber als wir auf der anderen Straßenseite ankamen, war da kein Bürgersteig mehr. Wo sonst Pflastersteine und Rinnstein waren, war jetzt nichts als Gras. Dickes, knöchelhohes Gras. Wie eine Wiese, die schon ein paar Wochen nicht mehr gemäht worden war.
    Ich blieb stehen.
    »Oscar …«
    »Ja?«, sagte er.
    »Wo ist der Bürgersteig?«
    Er antwortete nicht sofort. Wir standen beide da, und ich konnte nichts sehen als ihn und mich und unsere Fahrräder – und dieses Gras, das hier genau genommen gar nicht sein konnte.
    »Vielleicht sind wir aus Versehen in irgendeinem Garten gelandet«, sagte Oscar.
    »In der Jernbanegade? Da gibt es doch keine Gärten.«
    »Wir sind wahrscheinlich irgendwo falsch abgebogen …«
    In langsamen grauen Wirbeln bewegte sich der Nebel um uns herum. Jetzt konnte man nicht einmal mehr die Hausmauern sehen, obwohl wir eigentlich direkt daneben stehen mussten. Der Verkehrslärm war verstummt. Und es waren auch keine Menschen, Autos oder Räder mehr zu erkennen, die sich durch den Nebel bewegten. Ich spürte ein seltsames nasses Kribbeln im Nacken – ungefähr so, als würde ein Gespenst hinter mir stehen und mir auf die Schulter tippen. Ich drehte mich um. Mehr Nebel.
    Dann plötzlich kam ein Windstoß und fegte den Nebel beiseite. Zumindest einen Teil des Nebels. Es sah aus, als würde sich inmitten des Ganzen eine Art Tunnel öffnen, ein Trampelpfad mit Nebeldecke und Nebelwänden. Und auf dem Pfad kam … etwas.
    Es war kein Mensch. Jedenfalls habe ich noch nie einen Menschen mit Flügeln gesehen. Sie ragten ein paar Meter über den Kopf der Gestalt hinaus und ließen sie riesengroß erscheinen, obwohl sie genau genommen gar nicht so schrecklich viel größer war als ich. Dabei hatte sie die Flügel noch nicht einmal ausgebreitet, sondern am Rücken angelegt. Sie waren nicht weiß, wie ich eigentlich erwartet hätte, sondern braun und grau wie Raubvogelflügel.
    Auch das Gesicht der Gestalt erinnerte an einen Vogel. Es war schmal, mit einem spitzen Kinn und einer spitzen Nase, die fast wie ein Schnabel nach vorne ragte. Ihre Augen waren funkelnd gelb. Das weiß ich, denn sie schaute mich geradewegs an.
    »Hexenkind«, sagte sie mit einer zischenden, lispelnden Stimme. »Viridians Blut. Komm mit mir.«
    Ohne darüber nachzudenken, machte ich einen Schritt nach vorne. Wenn ein Engel ruft, dann folgt man ihm schließlich. Und das musste ja ein Engel sein, nicht wahr? Mit diesen Flügeln.
    Doch dann passierten zwei Dinge, sehr schnell nacheinander.
    Etwas rammte seitlich meinen Oberschenkel, sodass ich beinahe das Gleichgewicht verlor, und ein schwarzer Schatten schoss mit wildem, gellendem Katzenkampfschrei auf den Engel zu. Unvermittelt stieg mir wieder der Tanggeruch in die Nase, der zu dem Riesenkater gehörte. Die Engelsgestalt wich ein paar Schritte zurück und hob abwehrend die Hände – obwohl, eigentlich waren es eher Klauen als Hände, ihre Nägel waren ja mindestens so lang wie die Hände selbst. Dann war die Katze über ihr. Sie schrien alle beide, ungefähr gleich schrill, und eine dünne Fontäne Blut spritzte in die Luft und wurde zu einem feinen Schauer aus roten Tropfen.
    Im selben Moment wurde ich von Oscar gepackt und zur Seite gezerrt. Wir stürzten beide und landeten in einem Gewirr aus Fahrradreifen, Armen und Beinen.
    »Pass auf!«, brüllte er, und aus dem Nebel tauchte die Front eines Lastwagens auf. Scheinwerfer, quietschende Bremsen, Kühlergrill und Motorenlärm. Das Ganze donnerte auf uns zu, und ich wimmerte – ein dünner, kleiner, verängstigter Laut – und rollte mich, so schnell ich konnte, auf die Seite.
    Dann ein Knirschen und der durchdringende Gestank von verbranntem Gummi.
    Ich lag auf dem Bürgersteig, den Rücken an den Betonsockel eines Hauses gepresst, Oscar auf meinen Beinen. Kaum einen Meter von uns entfernt türmte sich das Führerhaus des Lastwagens auf, und unsere Fahrräder lagen beide zerquetscht unter seinen mächtigen Vorderrädern.
    Die Tür ging auf, und der Fahrer sprang heraus. Unter seinem Truckerkäppi war er leichenblass.
    »Ist euch was passiert?«, fragte er. »Seid ihr okay? In dem Nebel habe ich euch überhaupt nicht gesehen, erst im allerletzten Moment. Seid ihr okay?«
    Der Engel war weg. Die Katze war weg. Es gab keinen Nebeltunnel mehr, wie überhaupt der ganze Nebel sich

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