Wilhelm II
im Berliner Schloss. Die von Jürgensen aufgenommenen Sequenzen wurden von einem großen Filmverleih verwaltet und an Hunderten von Schauplätzen im ganzen Reich gezeigt. Sie gestatteten es dem Kaiser, sich in einer ganzen Palette privater Rollen zu präsentieren: als Familienvater, in der Freizeit und im Urlaub. Hier wurde ein Band zwischen Monarchie und Massenunterhaltung geschmiedet, das noch heute Bestand hat. Die familiäre Dimension der Monarchie blieb ihrerseits ebenfalls ein wichtiger Brennpunkt für sentimentale Bindungen. 101 Im Jahr 1913 war die Hochzeit zwischen Wilhelms Tochter Prinzessin Viktoria Luise und Ernst August III. von Hannover ein öffentliches Schauspiel; das mit einer frühen Form des Farbfilms aufgezeichnete und von Millionen Menschen im ganzen Reich bewunderte Spektakel bot den Massen womöglich das letzte Mal vor Ausbruch des Krieges die Gelegenheit, sich mit einem Ereignis im Leben des Monarchen emotional zu identifizieren. Selbst die kritischeren
Zeitungen anerkannten die bemerkenswerte, psychologische Wirkung dieser Schauspiele auf die Zuschauermassen vor Ort und in den Kinosälen. Beträchtliche (wenn auch nicht genau quantifizierbare) Reserven des »kaiserlich-royalistischen Kapitals« bestanden immer noch in der deutschen Gesellschaft. Die gesellschaftlichen Transformationen und politischen Unruhen eines Weltkriegs waren nötig, um sie ganz zu beseitigen.
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Von der Krise zum Krieg: 1909-191 4
Je mehr wir uns dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs nähern, desto schwieriger wird es, den Einfluss Wilhelms auf die Ereignisse zu beurteilen. Die Darstellung seiner Herrschaft überschneidet sich an diesem Punkt mit einer der komplexesten und verzweigtesten Diskussionen in der Geschichtsschreibung des modernen Europa. Es ist unmöglich, Wilhelms Rolle zu bewerten, ohne zumindest ansatzweise folgende Themenkomplexe zu streifen: die Diskussion um den Charakter der deutschen Diplomatie während der Balkankrisen, um das Wesen und die Bedeutung der deutschen »Kriegsplanung« vor 1914, um den deutschen Beitrag zur Eskalation des österreichisch-serbischen Konflikts von 1914 und schließlich um die gescheiterten Versuche, eine Katastrophe zu verhindern, als der Krieg unmittelbar bevorstand. Überdies tritt ein Problem der Wahrnehmung auf, während die Katastrophe vom August 1914 näher rückt: Jede kriegerische Randnotiz, jeder Aufruf zu einer Steigerung der Ausgaben für Marine oder Heer scheint – im Rückblick -, einen unheilvollen Beiklang zu haben. Wie Gegenstände, die sich dem Gravitationsfeld eines Schwarzen Lochs nähern, gewinnen Entscheidungen, schriftliche Kommentare, sogar dahin geworfene Bemerkungen an Gewicht, oder zumindest scheint uns das aus unserem Blickwinkel im Nachhinein so. Deshalb ist es doppelt so wichtig, Wort und Tat in den historischen Kontext einzubetten. Diese allgemeine Beobachtung gilt, wie wir noch sehen werden, ganz besonders für Wilhelm II.
Wilhelm, Österreich-Ungarn und der Balkan
In der Kette diplomatischer Konflikte, welche die europäische Diplomatie im letzten Jahrzehnt vor dem Krieg in Unruhe versetzten, drohte aus zwei Regionen besonders große Gefahr: aus Marokko und dem Balkan. An Nordafrika hatte Wilhelm nie großes Interesse gezeigt. Die Balkankrisen hingegen, die 1914 schließlich im Kriegsausbruch kulminierten, warfen Fragen auf, die schon seit langem zentraler Bestandteil seiner Auffassung von einer effektiven und ehrenhaften deutschen Außenpolitik waren. Wolfgang Canis und Lamar Cecil haben betont, mit welcher Konsequenz Wilhelm den Österreichern versicherte, dass er sie bei ihren unzähligen Verwicklungen auf dem Balkan unterstützen werde. 1 Mit Blick auf das katastrophale Resultat von 1914, als Deutschland an der Seite Österreichs in den Krieg zog, hat Canis die These aufgestellt, dass man Wilhelms langfristige Bindung an den österreichischen Bündnispartner als eine verhängnisvolle Belastung für die deutsche Politik und als Beweis der »für das Reich existenziell gefährlichen Kontinuität der Macht des Kaisers« werten müsse. 2 Diese Einschätzung wird jedoch nicht durch Wilhelms Beteiligung an den verschiedenen Balkankrisen der Vorkriegsphase bestätigt. Sein Engagement für die österreichische Politik in der Region war keineswegs unkritisch, und seine Bereitschaft, deutsche Unterstützung anzubieten, schwankte je nachdem, wie berechtigt die österreichischen Forderungen und wie groß die damit verbundenen Risiken in seinen
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