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Jäger der Nacht

Jäger der Nacht

Titel: Jäger der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wallace Hamilton
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1. KAPITEL
     
    Kevin Stark saß allein im Wartezimmer des Sozialamtes und versuchte sich vorzustellen, wie sein jüngerer Bruder wohl aussehen könnte.
    Wie seine Mutter aussah, das wußte er. Vor drei Jahren hatte er sie für etwa eine Stunde gesehen, als der Sozialarbeiter ihn ins Krankenhaus begleitet hatte. Ihr kastanienbraunes Haar war strähnig. Ihr Blick war erschöpft und wässrig. Ihre Wangen waren schlaff. Doch voller Wärme hatten ihre Augen geglänzt, als sie ihn liebevoll lächelnd umarmte.
    Aber Dennis? Er hatte nur eine ungefähre Erinnerung an ein zartes Kind, eine piepsige Stimme, an dunkles, wuscheliges Haar, an den Geruch schmutziger Windeln. Dann war Kevins Mutter ins Krankenhaus eingeliefert worden. Kevin und Dennis hatte man zu verschiedenen Pflegeeltern gegeben. Kevin war damals vier, Dennis zwei. An seinen Vater, der die Familie schon vor Dennis’ Geburt verlassen hatte, konnte er sich überhaupt nicht mehr erinnern.
    Aber nun, elf Jahre später, sollten Kevin, seine Mutter Millie und Dennis wieder zusammen kommen. Miss Gotter, die Sozialarbeiterin, hatte bei seinen Pflegeeltern angerufen und ihm gesagt, daß alle Vorbereitungen dafür getroffen wären. Und daß er einen Stiefvater namens Jake bekommen würde.
    Kevin rutschte unruhig auf dem unbequemen Stuhl hin und her. Er fragte sich, wer wohl diese Fremden sein würden, die jetzt in sein Leben traten. Wie würde seine Mutter damit fertigwerden? Wie würde Dennis mit dreizehn aussehen? Wer war Jake? Kevin fühlte bereits so etwas wie Heimweh nach seinen Pflegeeltern, nach der grünen Umgebung am Rande der Stadt. Sogar die Laureldale Junior High School erschien ihm ganz nett zu sein, nun, da er sie verließ.
    Er sah sich im Warteraum um – die vielen Stühle, der Stapel alter «National Geographic»‐Ausgaben auf dem Tisch an einer Wand, die grünen Wände, das Fenster mit dem Drahtglas. Über dem Tisch bemerkte er ein Bild in einem abgeblätterten Goldrahmen.
    Es zeigte einen Straßenzug, klar wie ein Foto, detailgetreu gezeichnet. Kevin überlegte sich, daß der Maler an einem heißen Sommernachmittag gearbeitet haben mußte. Er konnte förmlich das Summen der Fliegen hören und das Blätterrauschen des großen Baumes, der der Straße Schatten spendete.
    Im Vordergrund sah man eine offene Kutsche mit hohen schmalen Rädern und einem Pferd. Ein Mann und eine Frau saßen darin. Der Mann trug einen Reisemantel mit hohem Kragen und einen mächtigen Zylinder. Die Frau an seiner Seite trug ein wallendes Kleid, das bis zu ihren Knöcheln reichte. Obwohl ein Sonnenschirm ihr Gesicht überschattete, sah sie wunderschön aus.
    Auf einer kleinen Bank dem Paar gegenüber saß ein Junge, etwa so alt wie Kevin. Er sah ihn sich aufmerksam an. Eine Mütze von militärartigem Zuschnitt saß akkurat auf seinem Kopf; unter der Kappe sah ihn ein sanftes, ebenmäßiges Gesicht an, das in Kevin eine quälende Sehnsucht erweckte. Er geriet ins Träumen und sah sich in seiner Fantasie an der Seite des Jungen, wie sie mit der Kutsche durch die Allee hinaus aufs Land fuhren. Er und der Junge würden sich davonmachen, ganz allein, nur sie beide.
    Unter dem Bild sah er ein kleines Schild, gedruckt in Schreibschrift: «Houghton Street, 1880». Houghton Street! Er war schon mal in der Houghton Street gewesen, eine lange Reihe von neueren Ladenfronten in eben den altertümlichen Gebäuden, die er jetzt auf der Radierung sah. Hamburger‐Stände. Reinigungen. Haushaltswarenhandlungen. Chinesische Schnellimbisse. Mülleimer vor der Tür und Lieferwagen. Spielende Kinder auf den Bürgersteigen, alte Frauen anrempelnd, die mit ihren Einkaufswägelchen vom Waschsalon zurückkamen.
      Aber auf der Zeichnung sahen die Häuser wie eben gebaut aus, alle mit einer eleganten Vortreppe. Keine Mülleimer weit und breit. Keine Lastwagen. Vornehm gekleidete Leute. Er fragte sich, wie eine Stadt nur so schön aussehen konnte, wie es sein würde, dort durch die Straßen zu gehen und ihre Menschen zu kennen, wie es wäre, der Junge in der Kutsche zu sein. Was auch immer Miss Gotter arrangiert haben würde – er war sich ganz sicher, daß es nicht im entferntesten so schön sein würde wie auf diesem Bild der Houghton Street. Es würde noch nicht einmal so sein wie in Laureldale.
    Er dachte daran, wie an diesem Morgen seine Pflegemutter Mrs. Crimmins (er nannte sie immer ‹Mrs. Crimmins›, weil sie schon so alt war, daß sie ihm fast wie eine Großmutter vorkam) seine große Tasche

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