Wilhelm II
waren. Es ist kaum denkbar, dass ein Mann, der bekanntermaßen so gefühllos gegenüber Personen war, die ihm nahe gestanden hatten, ein deutlich größeres Mitgefühl gegenüber seinen
Untertanen insgesamt empfand. Kaiserin Friedrich, deren wohltätige Arbeit für die Unterdrückten aufrichtig war, zweifelte daran, dass ihr Sohn sich jemals wirklich um die Armen und ihre Probleme scherte. 26
Mehrere Aspekte dieses Auszugs können nicht kommentarlos stehen bleiben. Mit Blick auf die gestörte Beziehung zwischen Mutter und Sohn ist selbstverständlich bei jeder Darstellung der wahren Motive ihres Sohnes durch die Kaiserinwitwe große Skepsis angebracht. Außerdem ist es überaus problematisch zu implizieren, dass ein Eintreten für staatliche Interventionen im sozialen Bereich auf einer persönlichen »Wärme« basieren muss, damit es als aufrichtig gelten kann. Man muss hier unterscheiden zwischen der mitfühlenden Philanthropie von Wilhelms Mutter – in der sich die viktorianischen, liberalen Empfindlichkeiten um die Mitte des 19. Jahrhunderts spiegelten – und dem völlig andersartigen, staatlichen Paternalismus der protektionistischen Ära, der Wilhelms Weltanschauung prägte. Im letzten Jahrzehnt der Amtszeit Bismarcks als Kanzler war im deutschen Reich unter seiner Aufsicht das wohl fortschrittlichste System der sozialen Sicherung in ganz Europa eingeführt worden; und bei der Thronbesteigung hatte Wilhelm in seiner Antrittsrede vor dem Reichstag versprochen, das Programm der sozialen Gesetzgebung zu übernehmen, das Bismarck und sein Großvater 1881 eingeführt hatten. 27
Wilhelm war somit ironischerweise Bismarcks (allzu) begeisterter Schüler, wenn er sich mit dem Kanzler um die Grenzen der staatlichen Vorsorge in der Sphäre der Arbeitsverhältnisse stritt. Georg Hinzpeter hatte als sein Hauslehrer konsequent die soziale Verantwortung des Monarchen betont (im Jahr 1889 wurde Hinzpeter zu einem der wichtigsten Berater des Kaisers in der Arbeiterfrage). Darüber hinaus wurde Wilhelm von Hans Hermann von Berlepsch beeinflusst, dem preußischen Handelsminister von 1890 bis 1896, dessen Ansichten zur Arbeitspolitik das reform-konservative Konzept einer gewissermaßen »sozialen Monarchie« verkörperten, die etwa durch die aktive Vermittlung
des Souveräns in sozialen Fragen charakterisiert wurde. 28 Wilhelms Initiativen auf diesem Feld hatten folglich ihren Ursprung in seiner eigenen Biografie und in der politischen Ökonomie des deutschen Kaiserreichs am Ende des 19. Jahrhunderts. Jedenfalls darf man den Streit nicht dahingehend interpretieren, dass er allein durch die persönliche Initiative des Monarchen ausgelöst worden wäre. Die beispiellose Streikwelle von 1889/90 hatte die preußischen Behörden geschockt und verwirrt. Die Auseinandersetzungen um die Frage, wie man mit den Arbeiterunruhen umgehen solle, beschränkten sich keineswegs auf die politische Exekutive; sie zogen sich, wie Otto Pflanze zeigt, quer durch den gesamten Verwaltungsapparat. In der Provinz ebenso wie in Berlin fiel es den Beamten schwer, sich auf die Ursachen des Problems oder die geeigneten Maßnahmen zu einigen. 29 Zudem war es kein rein deutsches Problem. Ganz ähnliche Meinungsverschiedenheiten waren bei der Reaktion der russischen Verwaltung auf Arbeiterunruhen in den neunziger Jahren zu beobachten. Auch hier verlief die Trennlinie zwischen den einen, die wie Innenminister Sergej Subatow die Monarchie und den Staat drängten, durch die Verteidigung der Arbeiterrechte die Loyalität des Proletariats zu gewinnen, und denjenigen, die den kapitalistischen Sektor schützen wollten. 30
Wilhelm widersetzte sich in der Arbeiterfrage auch deshalb Bismarck, weil er die Gefahren, welche die Politik des äußersten Risikos barg, die der Kanzler betrieb, erkannte und fürchtete. Bismarck war bereit, wenn er es für notwendig hielt, eine so große Ausweitung der Streiks in Kauf zu nehmen, bis Deutschland an den Rand eines Bürgerkriegs gedrängt würde. Eine Alternative sah er darin, ein inakzeptabel strenges Sozialistengesetz in den Reichstag einzubringen und sich anschließend, nach mehrfachen Auflösungen des Parlaments, an die Spitze eines Verfassungsbruchs (oder Staatsstreichs) nach dem Muster von 1862 zu stellen. Falls es so weit gekommen wäre, hätte kaum ein Zweifel daran bestanden, dass sich der erfahrene Staatsmann als der dominante Partner in der Beziehung zwischen Kanzler und
Kaiser entpuppt hätte. Wilhelm schreckte vor
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