Wilhelm II
Repressionsmaßnahmen das einzige Mittel seien, mit dem der Staat der Herausforderung durch die sozialdemokratische Bewegung entgegentreten könne. Wenn man zuließ, dass die Streiks und Unruhen anhielten, ohne dass der Staat massiv eingriff, dann würde das den Widerstand des Reichstags gegen die neuen und schärferen antisozialistischen
Gesetze schwächen, für die der Kanzler sich einsetzte (die alten Sozialistengesetze sollten im September 1889 auslaufen). Falls diese Taktik scheitern sollte, blieb noch die extreme Option eines Staatsstreichs mit dem Risiko, einen Bürgerkrieg auszulösen. Unter so schwierigen und unberechenbaren Rahmenbedingungen war absehbar, dass Bismarck möglicherweise als die einzige Persönlichkeit hervortreten würde, die imstande war, das Staatsschiff auf Kurs zu halten, genau wie er es während der preußischen Verfassungskrise 1862 getan hatte. 21
Im Gegensatz zu Bismarck, der die Habgier der Arbeiter und die Sozialdemokratie für die aktuellen Unruhen verantwortlich machte, war Wilhelm der Meinung, dass das Kapital, nicht die Arbeiter die Hauptlast der Verantwortung trug und deshalb auch die Kosten für die Wiederherstellung des sozialen Friedens auf sich nehmen müsse. Wilhelm hatte nur rudimentäre, volkswirtschaftliche Kenntnisse, aber er wusste, dass der Auftragsboom, der von einem Konjunkturaufschwung seit 1887 eingeleitet worden war, die Gewinne der Bergwerkbesitzer und die Erwartungen ihrer Arbeiter gesteigert hatte. Am 11. Mai, nur vier Tage nachdem er erstmals über die Unruhen informiert worden war, befahl er dem Oberpräsidenten von Westfalen, die Geschäftsführer und Direktoren der Kohleunternehmen zu »zwingen«, die Löhne zu erhöhen; man sollte ihnen mit dem Abzug sämtlicher Regierungstruppen in der Region drohen, falls sie sich weigern sollten. »Wenn dann die Villen der reichen Besitzer und Directoren in Brand gesteckt, ihre Gärten zertreten würden, dann würden sie schon klein werden«, erklärte er am 12. Mai auf einer Kabinettsitzung, zu der er unangekündigt erschienen war, um seine Ansichten darzulegen. 22 Im November hörte der preußische Landwirtschaftsminister Robert Lucius von Ballhausen, wie Wilhelm sagte: »Da müsse noch ungeheuer viel geschehen, er [der Kaiser] müsse verhindern können, dass das Kapital die Arbeiter aussauge«, denn die meisten Industriellen »beuteten sie [die Arbeiter] rücksichtslos aus und ruinierten sie«. 23
Wilhelm war der Meinung, letztlich sei es Aufgabe des Souveräns, bei solchen Streitigkeiten zu vermitteln, immerhin seien die deutschen Arbeiter »seine Untertanen« mit einem rechtmäßigen Anspruch auf seine Fürsorge. Mitte Mai 1889 empfing er Delegationen der Bergarbeiter und der Minenbesitzer und warnte beide Seiten, allzu hohe Forderungen an die Gegenseite zu stellen. Es war eine beispiellose Geste, die ihm überraschend Respekt von breiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit einbrachte und dazu beitrug, den Weg für eine Verhandlungslösung zu ebnen. 24 Der Kaiser bestand während des ganzen Jahres 1889 darauf, die Regierung müsse dafür Sorge tragen, dass die Löhne erhöht und die Rechte der Arbeiter (Sonntagsruhe, Beschränkung der Wochenarbeitszeit und der Frauen- und Kinderarbeit) gesetzlich geschützt wurden. »Er [der Kaiser] betrachte es als seine Pflicht«, erklärte er nach der Rückkehr von einer Reise nach Konstantinopel im November, »sich hier einzumischen und dafür zu sorgen, dass keine Streiks und Bedrückung der Leute erfolge.« 25
Historiker betrachteten Wilhelms Initiativen auf diesem Feld bislang überwiegend skeptisch, sah man doch in seinem Interesse an der sozialen Frage nur einen Deckmantel für andere weniger hochfliegende Pläne, etwa für das Streben des Monarchen nach Popularität oder seinen illusorischen Wunsch, nach dem Vorbild Friedrichs des Großen ein »König der Bettler« zu sein. Es lohnt sich, die betreffende Passage aus Lamar Cecils ausgezeichneter Biografie – die für die gesamte Literatur repräsentativ ist – ausführlich zu zitieren:
Humanitäre Instinkte, die seinem Charakter völlig fehlten, bildeten keineswegs die Basis für seine Sorge um die armen Arbeiter. Gerade in der Jugend wies Wilhelms Charakter eine gewisse Kälte auf, die häufig von jenen beobachtet wurde, die ihn gut kannten, und sie zeigte sich mit besonderer Brutalität in der völligen Gefühllosigkeit, mit der er sich der Personen entledigte, die einst seine Freunde oder Diener gewesen
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