Der tote Junge aus der Seine - Ein Fall fuer Kommissar LaBr a
1. KAPITEL
E in mörderisch heißer Sommer.
Ab Ende Juli stieg die Temperatur kontinuierlich an und erreichte jetzt, in der zweiten Augustwoche, zwei Tage vor Mariä Himmelfahrt, einen Höhepunkt. Es war nicht ganz so schlimm gekommen wie im Sommer 2003, als das Thermometer in der Hauptstadt beinahe zwei Wochen lang konstant sechsunddreißig Grad Celsius angezeigt hatte. Dennoch ergriffen die Menschen ähnliche Maßnahmen wie damals. Wer es irgendwie ermöglichen konnte, fuhr ans Meer. Überfüllte Strände voller Urlauber und Touristen schienen das kleinere Übel verglichen mit einer Stadt, die sich unter einer monströsen Dunstglocke duckte und sich Tag für Tag weiter aufheizte. Nicht wenige Bewohner, die aus beruflichen oder sonstigen Gründen Paris nicht verlassen hatten und es sich leisten konnten, zogen vorübergehend in ein Hotel mit Klimaanlage. Innerhalb kurzer Zeit gab es keine Zimmer mehr.
Straßen und Boulevards zeigten sich tagsüber wie ausgestorben. Nur die nimmermüden Touristen, hart im Nehmen, schleppten sich, schwitzend und mit großen Wasserflaschen bewaffnet, zu den Sehenswürdigkeiten. Bier- und Getränkelieferanten hatten Hochkonjunktur. In einigen Betrieben wurde kurzfristig eine Urlaubssperre verhängt, was zu heftigen Protesten seitens der Gewerkschaften führte.
Auf dem Platz vor dem Hôtel de Ville hatte man Sand aufgeschüttet und Beachvolleyballfelder angelegt. Tagsüber waren diese wegen der großen Hitze meistens verwaist. Nur morgens und abends, wenn sich die Sonnenstrahlen vom Rathausplatz abwandten, trafen sich hier einige junge Leute. Mit Shorts oder Bikini bekleidet, warfen sie sich schwitzend in den Sand. Ihr Ballspiel wirkte lustlos und angestrengt und hatte etwas von einer Pflichtübung, deren Sinn allerdings im Dunkeln blieb.
Der Wasserstand der Seine war sehr niedrig. Nur 2003 war er noch niedriger gewesen. Träge floss das Wasser dahin. Es stank brackig, und in der grünbraunen, öligen Brühe trieben tote Fische.
An den rechten Seine-Ufern entlang der Île de la Cité und der Île Saint-Louis war die Schnellstraße Georges Pompidou auf einer Länge von dreieinhalb Kilometern gesperrt worden. Hier hatte die Stadtverwaltung, wie in jedem Sommer, Paris Plage angelegt. Der schmale Uferstreifen am Fluss war mit feinem Sand bestreut. Er stammte - ebenso wie der Belag vor dem Hotel de Ville - aus einer südlich der Stadt liegenden Sand- und Kiesgrube. Man konnte Liegestühle und Sonnenschirme mieten. Fliegende Händler boten Getränke, Sandwichs und Eis an. Schon morgens um acht lagen hier die Menschen dicht an dicht und verbrachten so die heißen Tage. Die Illusion einer Strandidylle wurde allerdings durch zwei Faktoren stark gemindert. Zum einen durch die Tatsache, dass man in der Seine nicht baden durfte und es somit keine Abkühlung gab. Zum anderen durch das entfernte, doch stetige Brausen des Stadtverkehrs. Die bleierne Glocke aus feinsten
Schmutzpartikeln und weißem Sonnenlicht tat ein Übriges. Niemand, der abends von Paris Plage in seine stickige Wohnung zurückkehrte, fühlte sich erfrischt oder gar erholt.
Einer der heißesten Orte in diesen Tagen war das große Fernsehstudio von TF1, in dem am Abend die wöchentliche Rateshow mit Moderator Yves Ribanville stattfand. Das Studio lag nicht am Hauptsitz des Senders in Boulogne, sondern in der Innenstadt. Ribanville fragt war eine der beliebtesten Shows zur Hauptsendezeit; sie brachte hohe Einschaltquoten und bezog die Zuschauer mit ein. Letzteres bedeutete, dass einzelne Fragen an die Kandidaten auch von den Zuschauern beantwortet werden konnten. Zu diesem Zweck wurde zu jeder Sendung eine Hotline eingerichtet, und in einem Zeitraum von fünf Minuten konnten die Zuschauer ihr Statement telefonisch an die Fernsehstation durchgeben. Unter den richtigen Antworten wurde ein Gewinner ausgelost, dem ein Geldpreis von fünftausend Euro winkte.
Auch heute wurde schon ab zehn Uhr vormittags alles für die Livesendung am Abend vorbereitet. Quizmaster Ribanville würde erst am Nachmittag im Studio erscheinen und in Absprache mit der Regie und der Aufnahmeleitung einen Probedurchlauf der Sendung starten. Die gesamte Organisation dafür lag in den Händen seines jungen Assistenten Michel Delpierre. Delpierre war erst vor wenigen Monaten zum Team gestoßen. Seine Vorgängerin, die von Ribanvilles erster Sendung an mit dabei gewesen war, erschien nun als neue Wetterfee jeden Abend selbst auf dem
Bildschirm. Diesen
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