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Wilhelm II

Wilhelm II

Titel: Wilhelm II Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clark Christopher
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betrachtete er als seine privaten Gesandten und schätzte sie als unverzichtbare Instrumente für die Verfolgung einer persönlichen, dynastischen Diplomatie. 4 Wilhelm hielt auch Treffen und Korrespondenz mit anderen Dynastien, die Teil des regelmäßigen Verkehrs zwischen Monarchien waren, für eine einzigartige, diplomatische Ressource, die es für die Interessen des eigenen Landes zu nutzen galt. 5 Schließlich hatte Wilhelm als Oberbefehlshaber der Streitkräfte, mit persönlicher Verantwortung für das stehende Heer und die kaiserliche Marine in Friedenszeiten, eine wichtige Rolle. Initiativen zu Stärke und Aufbau dieser Streitkräfte waren zwar strenggenommen eher Themen der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, nicht der Außenpolitik, aber sie hatten unmittelbaren Einfluss auf die internationale Lage und boten dem Kaiser folglich eine weitere Möglichkeit, die dem Auswärtigen Amt zur Verfügung stehenden Optionen zu begrenzen beziehungsweise auszuweiten.
    Somit fehlte es Wilhelm weder an den Mitteln noch am Ehrgeiz, um auf den Entscheidungsprozess Einfluss zu nehmen. Kann man also sagen, dass er der deutschen Politik eine bestimmte Stoßrichtung gab? Gelang es ihm, sich selbst an das Ruder des Staatsschiffes zu stellen, wie er es sich seit seiner Thronbesteigung gewünscht hatte? Auf diese Frage gibt es keine eindeutige Antwort. Wilhelm reiste unermüdlich in den ersten Jahren seiner Herrschaft: etwa nach St. Petersburg, Stockholm und Kopenhagen, Wien und Rom im Jahr 1888 und nach England, Monza, Athen und Konstantinopel im folgenden Jahr. Diese Missionen hatten gewiss ihre Berechtigung – insbesondere die Reise nach Konstantinopel dürfte den Grundstein für eine spätere Intensivierung der Beziehung zwischen dem Osmanischen und dem Deutschen Reich gelegt haben 6 -, aber sie waren nicht von einer neuen oder eigenständigen Agenda durchdrungen. Ihre Hauptfunktion war es, Wilhelm eine Gelegenheit zu geben, sich in seiner neuen Würde zu präsentieren und seinen Appetit auf Fernreisen mit der Bahn und dem Dampfschiff zu stillen. 7

    Nichts illustriert besser, wie weit der Kaiser von den eigentlichen Zentren der Politik entfernt war, als die Entscheidung im März 1890, den Rückversicherungsvertrag mit Russland nicht zu verlängern. Der von Bismarck mit Russland 1887 geschlossene Vertrag legte fest, dass Deutschland und Russland einander beistehen würden in dem Fall, dass Russland von Österreich-Ungarn oder Deutschland von Frankreich angegriffen würde. Der Hauptvorteil des Vertrags war, dass er Frankreich isolierte, das mit Deutschland unversöhnlich verfeindet war, und auf diese Weise einen Zweifrontenkrieg verhinderte – oder zumindest seine Wahrscheinlichkeit verringerte. Der Hauptnachteil war allerdings, dass er Deutschland Verpflichtungen auferlegte, die im Widerspruch zu den Bedingungen des Bündnisses mit Österreich-Ungarn standen. Mitte Februar 1890 hatten das russische Außenministerium und Bismarck unverbindlich vereinbart, dass der Vertrag erneuert werden solle, eventuell in abgeänderter Form. 8 Schon wenige Wochen nach Bismarcks Ausscheiden aus dem Amt wurde jedoch zugelassen, dass der Vertrag einfach auslief. Diese politische Kehrtwende wird zu Recht als einer der wichtigsten Marksteine der Vorkriegsära angesehen. Sie machte den Weg frei für die Allianz und Militärkonvention zwischen Frankreich und Russland, die in den folgenden Jahrzehnten so starken Druck auf die deutsche Diplomatie ausüben sollte. Und allgemeiner formuliert signalisierte der Schritt, wie Rainer Lahme treffend feststellt, den Übergang »von dem multipolaren, beweglichen Gleichgewicht der traditionellen Pentarchie« zu dem »in erster Linie nur noch militärstrategisch verstandenen, starren und unflexiblen, bipolaren Gleichgewicht von antagonistischen Bündnissen auf dem Kontinent«. 9
    In Anbetracht der strategischen Bedeutung der Nichterneuerung ist es umso erstaunlicher, dass Wilhelm nicht an der Genese dieser Politik beteiligt wurde. In erster Linie drängte eine Fraktion innerhalb des Auswärtigen Amtes, den Vertrag nicht zu erneuern. Jahrelang hatten sie insgeheim Bismarcks Linie abgelehnt und übernahmen nach seinem Sturz nun das Ruder. Unter
Holsteins Führung hatte die Fraktion kaum Schwierigkeiten, den neuen Kanzler Leo von Caprivi und den neuen Staatsekretär im Auswärtigen Amt Adolf Marschall von Bieberstein auf ihre Seite zu ziehen. Beiden fehlte es auf dem Feld der Außenpolitik an Selbstvertrauen und

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