Wilhelm II
dieses Manko in der deutschen Verfassung zu korrigieren. Ein klügerer und selbstsicherer
Monarch hätte möglicherweise konstruktiv zwischen den beiden Parteien vermittelt und so die Kooperation der militärischen und zivilen Behörden in gegenseitigem Respekt erreicht, die Bethmann gefordert hatte. 72 Stattdessen stellte sich Wilhelm nach außen demonstrativ an die Seite des Militärs, während er hinter den Kulissen den Forderungen der Politiker nachkam. Allein die Tatsache, dass er dies tat, ist ein Zeichen, wie gravierend seine Macht in der Sphäre der zivilen Gewalt seit 1890 abgenommen hatte. Es scheint so, als habe er sich nicht länger für die Regierungspolitik oder auch nur für die Verteidigung der zivilen Ordnung verantwortlich gefühlt – das konnte man Bethmann überlassen! – und sei entschlossen gewesen, zu »seiner« Armee zu halten, zu der einzigen Institution, in der seine Autorität noch nicht in Frage gestellt wurde. Zu keinem Zeitpunkt bedeutete dies jedoch, dass Wilhelm wiederum mit dem Gedanken an einen coup d‘état spielte. Sein Sohn Kronprinz Wilhelm, der sich der ultrakonservativen Opposition angeschlossen hatte, dachte im letzten Jahr vor dem Krieg mit Sicherheit in diese Richtung und bombardierte den Kaiser mit Briefen, in denen er ihn drängte, »kurzen Prozess mit dem verfluchten Pöbel« zu machen und »sowohl im Innern wie im Äußern feste [durchzugreifen], auch wenn dadurch andere auf die Füße getreten werden«. 73 Aber Wilhelm zeigte sich wenig beeindruckt. »Staatsstreiche mögen«, teilte er dem Kronprinzen im November 1913 mit, »bei süd- und mittelamerikanischen Republiken zu den Mitteln der Regierungskunst gehören, in Deutschland sind sie gottlob noch nicht üblich gewesen und dürfen es nicht werden, weder von oben noch von unten. Das sind gefährliche Leute, die so etwas anzuraten wagen, gefährlicher für die Monarchie und ihren Bestand wie der wildeste Sozialdemokrat.« 74
Schlussfolgerung
In den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts war der Kaiser als wichtiger Faktor in der hohen Politik hervorgetreten, indem er ehrgeizige (wenn auch oft zum Scheitern verurteilte) Gesetzesinitiativen einbrachte, mit einzelnen Ministern intrigierte und schrittweise die Autorität des Kanzlers untergrub. Eine atomisierte, unentschlossene Regierung stand einem stürmischen und unberechenbaren Reichstag gegenüber, und es war sogar von einem Staatsstreich die Rede, der die Wahlrechtsreform von 1871 rückgängig machen und die monarchische Regierungsgewalt wiederherstellen würde. Der Amtsantritt Bülows fiel mit einer relativen Stabilisierung des Systems zusammen. Die Beziehung zwischen dem Kanzler und den Parteien im Reichstag entwickelte sich mehr und mehr zur Routine, als die Parteien stärker in die Ausarbeitung und Ergänzung der Gesetze eingebunden wurden. Nicht ohne ein Gefühl der Erleichterung trat Wilhelm in den Hintergrund und gab einen großen Teil der politischen Initiative in innenpolitischen Angelegenheiten an Bülow ab. Gelegentlich befürwortete der Kaiser ausdrücklich eine bestimmte Maßnahme der Regierung, wie die Reform der höheren Bildung Anfang des 20. Jahrhunderts oder das preußische Bergbaugesetz von 1905, aber er spielte nur die Rolle des Unterstützers. Die früheren Debakel im Zusammenhang mit der Umsturzvorlage und Kanalbauprojekten wiederholten sich nicht, als der Kaiser eigenhändig (und erfolglos) versucht hatte, neue Gesetze in Dampfwalzenmanier durch den Reichstag zu bringen.
Es wurde die These aufgestellt, dass Wilhelm, selbst wenn er sich nicht persönlich in die Politik einmischte, dennoch die Ergebnisse kraft der Tatsache mitprägte, dass erstens seine Vorurteile an sich schon eine informelle »Barriere« bildeten, die kein Minister zu überschreiten wagte, und dass zweitens die Minister sich gerne einschmeicheln wollten, indem sie die Wünsche des Kaisers vorwegnahmen und auf sie hinarbeiteten. John Röhl hat in einem Aufsatz den Begriff »Königsmechanismus« (aus
Norbert Elias’ Studie des Hofs von Ludwig XVI. entlehnt) verwendet, um diese indirekte Form kaiserlicher Befehlsgewalt zu umschreiben. 75 Doch angesichts der Entwicklungen innerhalb der Exekutive unter Bülow und Bethmann Hollweg als Kanzler liegt die Schlussfolgerung nahe, dass diese Analogie allzu hoch gegriffen ist. Freilich war Bülow insofern ein »Höfling«, als er – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – von dem persönlichen Vertrauen des Monarchen abhängig war
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