Wilhelm II
Hollweg war jedoch die berühmte »Zabern-Affäre«, zu der es im Herbst 1913 kam. Die beleidigenden Äußerungen eines deutschen Offiziers lösten damals eine Kette kleinerer Zusammenstöße mit der einheimischen Bevölkerung aus, die mit der gesetzwidrigen Verhaftung von rund 20 Bürgern am 28. November einen Höhepunkt erreichten. Wiederum drehte
sich der Konflikt um völlig unterschiedliche Auffassungen von dem geeigneten Umgang der Verwaltung mit den Einheimischen. Die militärische Führung in der Provinz stellte sich auf den Standpunkt, dass aufsässiges Verhalten eine direkte Gefahr für das Ansehen und die Effektivität des Militärs sei, und unterstützte die Maßnahme des Offiziers, der die Verhaftungen befohlen hatte. Die zivile Verwaltung hingegen warf dem Militär vor, das politische Klima in der Region durch sein provokatives und taktloses Auftreten zu vergiften. Einmal mehr schlug sich Wilhelm auf die Seite des Militärs: Während er ausdrücklich dem kommandierenden General Berthold von Deimling den Rücken stärkte, schickte er Wedel ein Telegramm, in dem er der Zivilverwaltung die Schuld an der Verschlechterung der Lage in der Provinz gab. Und wie in der Mühlhausen-Affäre zwei Jahre zuvor war es schwer für Zivilisten, zum Kaiser zu gelangen, weil er sich in Donaueschingen auf dem Landgut seines Freundes Fürst Max Fürstenberg in der Gesellschaft seiner militärischen Entourage aufhielt.
Das Hauptproblem bestand darin, dass Wilhelm Wert darauf legte, solche Dinge als intern militärische Angelegenheit zu behandeln, eine »Kommandosache«, die nur ihn selbst als obersten Kriegsherr und seine militärischen Untergebenen betraf. Das war eine extrem formalistische und kurzsichtige Ansicht, weil es auf der Hand lag, dass die liberale Meinung in der Nation insgesamt über das Vorgehen der Armee in der Provinz bestürzt war, und weil sie die Zabern-Affäre als einen Prüfstein für die Herrschaft des Rechts und der zivilen Gewalt auffasste. Angesichts der Uneinsichtigkeit Wilhelms sah sich Bethmann Hollweg (trotz ernster Bedenken) genötigt, die Aktionen in Elsass-Lothringen vor dem Reichstag zu verteidigen. Die Abgeordneten antworteten mit einem Missbilligungsantrag gegen den Kanzler, der mit einer überwältigenden Mehrheit (293:54 Stimmen) angenommen wurde. Hinter den Kulissen gelang es Bethmann, Wilhelm dazu zu bewegen, die ursprünglichen Vorfälle zu untersuchen und Disziplinarmaßnahmen gegen die militärischen Haupttäter
einzuleiten, aber er konnte aus diesen Schritten im Reichstag kein Kapital schlagen, weil Wilhelm sich auf die kaiserliche »Kommandogewalt« berief und der Fall infolgedessen vertraulich als eine innere, militärische Angelegenheit geregelt werden musste. 69
Die Zabern-Affäre deckte auf, welche gewaltigen Hindernisse einer friedlichen Integration in den ehemals französischen Gebieten im Wege standen, und zeigte ganz klar die Grenzen der Macht des Reichstags auf. Sie schadete dem Ansehen des Kanzlers Bethmann Hollweg (womöglich erklärt nicht zuletzt diese Affäre den raschen Verlust jeglichen Rückhalts für ihn nach 1914). Laut mindestens einer Quelle schürte sie auch Unmut in der Bevölkerung gegen den Kaiser: »Die Erbitterung darüber gehe tiefer als in den Novembertagen [von 1908].« 70 Gleichzeitig stärkte sie aber das Band zwischen Kaiser und Kanzler. Der Unterschied zwischen Bülows Verhalten in der Daily Telegraph- Krise und Bethmanns Verhalten in der Zabern-Affäre, die in der Presse allgemein mit der früheren Krise verglichen wurde, blieb Wilhelm nicht verborgen. Er entlohnte es dem Kanzler mit standhafter Treue in den schwierigen, ersten Kriegsjahren. Die Vorfälle von Mühlhausen und Zabern warfen auch ein Schlaglicht auf die Sonderstellung des Militärs im deutschen, politischen System. Die Armee war, mit ihrer kaiserlichen Befehlsstruktur, ein außerparlamentarisches, institutionelles Überbleibsel des Absolutismus in einem sonst konstitutionellen Rechtsstaat. Sie war in dem neuen Reich der vorderste Träger der partikularistischen Tradition der Hohenzollern und Preußen und als solche eine Kompromisslösung, die man 1871 eingegangen war. Deshalb wäre es falsch, allein Wilhelm die Verantwortung für die Konflikte zuzuschieben, die in der unruhigen Provinz Elsass-Lothringen ausbrachen. »[…] das sind Fehler der staatsrechtlichen Construktion [sic!] und unserer militärischen Anschauungen«, wie Valentini sagte. 71
Wilhelm erwies sich als unfähig,
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