Wilsberg 14 - Wilsberg und der tote Professor
I
Ich mochte Professor Günter Kaiser nicht. Dabei kannte ich ihn nicht einmal. Ich beobachtete ihn aus rund fünfzig Metern Entfernung, auf dem kleinen Monitor meiner Digitalkamera. Von dem Gebäude des Aegidiimarktes, in dessen Treppenflur ich stand, hatte ich einen guten Einblick in Kaisers Zimmer auf der anderen Seite der Johannisstraße.
Kaiser war Professor für Sprachwissenschaft am Philologischen Fachbereich der Westfälischen Wilhelms-Universität. Außerdem betatschte er gerne Frauen. Drei Stunden hatte ich im Treppenhaus zugebracht, und im Moment fotografierte ich bereits seinen zweiten Versuch, dieser Neigung nachzugehen.
Die erste Frau, der er unter die Bluse gegriffen hatte, schien zum Personal des Instituts zu gehören. Die Art, wie sie miteinander redeten, ließ darauf schließen, dass sie sich schon lange kannten. Zuerst hatten sie offenbar Themen besprochen, die ihre Arbeit betrafen. Die Frau wirkte sachlich und konzentriert, sie strahlte eine gewisse Kühle aus, wozu die weiße Bluse, der graue Rock und die hochgesteckten Haare beitrugen. Vielleicht war das aber auch nur ihre Strategie, den Professor nicht unnötig zu reizen.
Als er hinter sie trat und seine breite Hand an ihren Hals legte, versteifte sich ihr Rücken kaum merklich. Sie drehte den Kopf und ich sah ihr gefrorenes, halb spöttisches Lächeln. Sie schien die Berührung erwartet zu haben und als ähnlich angenehm zu empfinden wie den morgendlichen sauren Geschmack im Mund.
Kaiser öffnete die obersten Knöpfe der Bluse, dann schob er seine Hand hinein und knetete die linke Brust wie einen Hefeteig. Sie ließ ihn fünf Sekunden gewähren, bevor sie die Hand herauszog und ihn zurückschob. Eigentlich war es kein Zurückschieben, eher stützte sie ihre Hand auf seinem hellblau karierten Hemd ab, um eine Distanz zwischen sich und seinen lüsternen Fingern zu schaffen. Dabei redete sie auf ihn ein, nicht wütend oder beleidigt, sondern so, wie man mit jemandem redet, der einem die Karriere vermasseln kann.
Kurz darauf verschwand die Frau. Kaiser schaute ihr mit verkniffenem Gesichtsausdruck hinterher. Offensichtlich hatte er sich mehr versprochen. Aber er kaute nicht lange an seiner Niederlage. Wie ich gerade beobachten konnte.
Kaiser war dreiundfünfzig, hatte mir seine Frau erzählt. Ein Mann in den so genannten besten Jahren, die vermutlich deshalb so heißen, weil das Ende schon absehbar ist.
Seine Frau war zwanzig Jahre jünger und eine ehemalige Doktorandin des Professors. Darüber, wie sich die beiden näher kennen gelernt hatten, hatte ich inzwischen eine klare Vorstellung. Marie Kaiser war eine schöne Frau, groß, schlank, mit langen braunen Haaren. Ein leichter Anflug von Stress lag auf ihrem schmalen Gesicht, zwei scharfe Falten zwischen Nase und Mund sprachen dafür, dass im Hause Kaiser nicht nur Idylle herrschte. Und natürlich die Tatsache, dass sie einen Privatdetektiv engagierte.
Marie hatte Kaiser nach ihrer Promotion geheiratet. Es gab eine Vorgängerin, über die man nicht sprach. Marie verzichtete auf ihren Beruf, wurde Hausfrau und Mutter. Mittlerweile regelten zwei Kinder im Krabbelalter ihren Tagesablauf, sodass nur wenig Zeit blieb, in der sie darüber nachdenken konnte, wie ein anderes Leben ausgesehen hätte, eine akademische Karriere, ein Leben ohne Kaiser.
Sie wusste, dass sie nicht die Einzige gewesen war, der Kaiser eine intensive Beratung auf der Couch seines Arbeitszimmers hatte zukommen lassen. Wer als gut aussehende Studentin eine bessere Note haben oder eine wackelige Prüfung bestehen wollte, ging zu Kaiser. Aber er hatte Marie geschworen, dass sich mit ihr alles verändert habe, dass sie seine Erfüllung sei, dass er nie wieder mit einer Studentin schlafen würde. Und sie hatte ihm geglaubt.
»Wollen Sie es wirklich wissen?«, hatte ich sie gefragt.
»Ja.« Sie zog die Nasenflügel zusammen. »Ich muss wissen, woran ich bin. Ich will nicht ständig mit einer Lüge leben.«
Wir saßen in einem Café in der Innenstadt, im stickigen Inneren, wo wir fast unter uns waren. Wer keine Allergie gegen Sonnenstrahlen hatte oder auf Diskretion achten musste, bevorzugte die Tische auf der Fußgängerstraße vor dem Café.
»Ich habe solche Jobs schon oft gemacht«, erklärte ich. »Und hinterher gab es meistens Heulen und Zähneknirschen. Man kann mit einer Lüge leben, aber nicht mit hässlichen Fotos.«
»Ich dachte, Sie sind Privatdetektiv und kein Lebensberater.«
Ich grinste. »Ich wollte Sie
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